Freitag, 19. Juni 2015

Bauchfrei

"Ich habe getanzt. Ich habe so abartig getanzt bis der Anzug weiße Schweißränder hatte.“ Hanno war wieder im Swinger-Club. Und er erzählt. Seine Stimme ist tief. Ruhig. Extrem angenehm. Er wischt sich eine schüttere blonde Haarsträhne aus der Stirn: „Das war so was von geil! Ich hab‘ mir den Wolf getanzt und sie lag vor mir auf der Liege und hat sich’s selbst besorgt.“

Egal wann, egal wo und egal zu welchem Anlass, Hanno hält mit seinen Neigungen nicht hinter dem Berg. Das nervt. Ein bisschen wenigstens. Er ist ein lieber Kerl. Einer, dessen Umgang mit seinen Mitmenschen ebenso warm ist wie seine Stimme. Ich treffe mich ab und zu mit ihm. Schließlich haben wir zusammen Abitur gemacht. Und wir waren letztes Jahr zusammen bei dem Status-Quo-Konzert. Auf dem Rückweg haben wir im Auto die Hits der Neuen Deutschen Welle gegrölt. Volle Kanne. Was die Stereoanlage und unsere Stimmen hergaben. Ein sensationeller Herrenabend. Wie eben alle Abende mit ihm. Ich mag ihn recht gern. Zugegeben: Anfangs hatte ich meine Probleme mit seiner Offenheit. (Ja, man kann sich auch mit Anfang Fünfzig gehörig fremdschämen.) Mittlerweile habe ich begriffen, dass es erstens zum Habitus von Swingern gehört, sich auch öffentlich dazu zu bekennen, und zweitens, dass Hanno etwas richtig macht: Er lebt seine Phantasien.

Das tue ich nicht. Swingen gehört auch nicht zu meinen Phantasien. Ich tue es nicht, weil mir die Partnerin dazu fehlt. Paula hat keine Phantasien. Ihr Porno-Kopfkino ist lange schon geschlossen. Hanno und ich verabschieden uns. Ich trotte zur Bushaltestelle und nehme den 0:40er. Ich starre auf die regennasse Straße. Ich denke darüber nach, ob Paulas Kopfkino überhaupt je eröffnet wurde. Etliche Male hat sie exaltiert „Beweg‘ dich, stoß zu, fick mich!“ gefordert. Okay. Ein anderes Mal hat sie mir angeboten, zu tun, was ich will. Gegen den Versuch, Ihre Brustwarzen mit ihrem Vaginalsekret zu befeuchten, hat sie sich gewehrt. Nicht okay. Ihre Antwort auf meine Frage – und ich stelle sie häufig während wir miteinander schlafen – worauf sie denn jetzt Lust hätte, ist stereotypisch: „… ist alles gut so …“. Oralverkehr – hatten wir den mal? Leidenschaftlich geknutscht haben wir schon seit Jahren nicht mehr. Es kommt mir vor, als hätte ein richtiger Zungenkuss mit Paula die Erotik eines Beischlafs mit ihr längst überflügelt. Das Thema Phantasien zu besprechen, vielleicht sozusagen postkoital oder gar außerhalb des Bettes – ausgeschlossen. Darauf reagiert Paula nicht. Sie hat buchstäblich jedes Gefühl dafür verloren.

Diese Gedanken sind – das liegt in der Natur der Sache – quasi das Ticket zu meinem Kopfkino. Als ich ins Schlafzimmer schleiche, höre ich Paulas gehauchtes Schnarchen. Die Live-Performance fällt heute leider aus. Die Hauptdarstellerin ist verhindert.

Heute ist Samstag. Ich habe es endlich mal geschafft: Ich sortiere Hosen, Hemden und T-Shirts aus, die ich nicht mehr tragen möchte. Da hat sich ein beträchtlicher Hügel angesammelt. Ich freue mich. Ich bin gut gelaunt. Paula kommt vom Joggen nach Hause. Sie trägt das violette kurze Sporttop. Ihr nackter Bauch glänzt vom Schweiß. Der Projektor in meinem Kopfkino springt an. Ich lächle, sie gibt mir einen Begrüßungskuss. Flüchtig. Ich streichle ihren Po, als sie sich zwischen mir und dem Ausmistwäschestapel durchschlängelt. Sie knotet die Laufjacke von ihren Hüften, legt sie auf den Sessel. Der Projektor hat jetzt Betriebstemperatur. Ich tue so, als räumte ich den Stapel mit dem Fuß beiseite, streichle über ihren Bauch. Diesen irrsinnig flachen Bauch. Den Bauch, der mich am meisten anmacht. Paula weicht zurück: „Lass‘ mal, ich schwitze.“ POFF – die Glühbirne im Projektor platzt, das Licht geht aus. Und die Ausmisterei weiter. Paula zieht sich aus; nackt schlängelt sie sich wieder an mir vorbei Richtung Dusche. Ich sehe nicht hin. In dem Dunkel, das die zerborstene Projektorbirne hinterlassen hat, ist ohnehin nichts zu erkennen.

Am Abend sitzen wir beim Essen auf dem Balkon. Paula trägt jetzt ein ärmelloses Top. Mit tiefem V-Ausschnitt. Einen BH trägt sie nicht. Irgendein Spaßvogel setzt den Projektor wieder in Gang, als ich ihr aufs Dekolleté schiele. Die Jungs sitzen nebeneinander und kaspern herum: Mit seinem Zeigefinger piekt der ältere dem jüngeren in Schulter, Armen und Rücken. Als er ihm in den Bauch sticht, faucht der Gepiesackte: „Du Schwuchtel, hör‘ auf an meinem Bauch rumzufummeln!“ „Ooooch, der Kleine“, kommt postwendend die Replik, „hat Aua-Bauch“. Jetzt mischt sich Paula ein: „Du, ich kann das verstehen. Ich werde auch nicht so gerne am Bauch angefasst.“

Als die Kinder im Bett sind, informiere ich Paula, dass ich noch mit meinen Kolleginnen verabredet sei.
Ich gehe tanzen.