Woran man Modewörter erkennt?“, fragt Kurt Tucholsky. Und
antwortet gleich selbst: „Man erkennt sie nicht, man muss das fühlen.“ Mir
fallen „Heuschrecken“ oder „Wutbürger“ ein. Und „Helikoptereltern“, die ihrem
Nachwuchs jeden Wunsch erfüllen, sich eigentümlich konsequent für sein Wohlergehen
einsetzen und sich mit ihm verbünden.
„Menschenskind“, tippe ich in eine SMS, „nu isses soweit:
Frau Napf wird 29! Da gratuliere ich allerherzlichst, wünsche Glück, Gesundheit
und Geduld. Außerdem freue ich mich auf ein gemeinsames Gläschen.“ Marlies –
das ist Frau Napf – reagiert sofort. Nicht etwa, weil es ihr schmeichelt, dass
ich ihr bereits zum 14. Mal zum 29. gratuliere. Nein, wir waren Kollegen. Vor
vielen Jahren schon. Verstehen uns bis heute gut. Wir verabreden uns für
Mittwoch. Auf ein Gläschen. Oder zwei.
Ich schreibe noch eine SMS. An Paula. Um sicherzugehen, dass
dieser Mittwochabend klargeht. Am Dienstag klären wir, dass ich nach der Arbeit
zum Abendessen nach Hause komme und mich mit Marlies erst um halb neun treffe.
Ich safte, bin eben nach Hause gekommen. Die zehn Kilometer
auf dem Rad vom Büro sind bei 25° C ziemlich schweißtreibend. (Ich habe weder
ein Pedelec, noch fahre ich im Rentertempo.) Während ich mir die Radhandschuhe
ausziehe, kommt Paula aus der Küche:
„Du …?“, sagt sie. Um genau zu sein, sagt sie: „Duhuuu?“ –
zwei Silben mit Signalwirkung: Achtung, jetzt kommt was. „Wolltest du nachher
mit dem Auto in die Stadt fahren?“, fragt sie.
„Äahh …“, für ein paar Sekunden zögere ich. Spiele die
Vereinbarungen für heute Abend im Kopf durch. Ich finde nichts, was mir falsch
vorkommt. „Das haben wir doch so besprochen“, sage ich mit ehrlicher
Überzeugung.
„Der Jakob (unser Ältester) ist im Training“, sagt Paula,
„wenn du direkt um acht am Sportplatz bist und ihn abholst, kommst du
vielleicht nur zehn Minuten zu spät.“
Mein Wutaggregat vibriert:
„Wieso ist heute Training? Am letzten Schultag. Du hast
selbst gesagt, letzte Woche sei das letzte Mal gewesen.“ Paula streitet das ab.
Die Vibrationen in meinem vegetativen Nervensystem werden
stärker:
„Warum hast du das denn gestern Abend nicht gesagt?“, frage
ich.
Sie hätte es nicht gewusst.
„Das mit dem Training“ hätte sich erst heute ergeben,
behauptet Paula.
Mein Tonfall wird giftig:
„Verdammte Hacke, warum rufst du mich nicht an, um das zu
klären? Das kostet dich zwei Minuten deines Lebens. Eine SMS geht noch
schneller. Wo ist das Problem?“
Wir hätten nicht besprochen, dass ich das Auto nehme wollte,
hält Paula mir nun vor.
„Herrgott nochmal“, belle ich, „selbst wenn dem so wäre:
Warum hast du mich dann nicht angerufen, um es zu besprechen? Wenn etwas unklar
ist, muss man es klären.“
Das sei doch nicht schlimm; es wären doch nur zehn Minuten,
die ich zu spät käme, lautet Paulas nächste These.
Ich raste aus:
„Das, meine Liebe, das entscheide ich immer noch für mich
selbst, ob es schlimm ist, wenn ich zu spät komme. Das ist mal wieder typisch,
dass hier Pläne gemacht werden über meinen Kopf hinweg. Wunderbar, soll der
Alte doch bleiben, wo er will. Alles, alles mal wieder zu meinem Nachteil.“ Ich
poltere die Treppe nach oben ins Bad, reiße den Duschvorhang zur Seite und den
Warmwasserhebel nach oben. Dann postiere ich mich am Treppengeländer: „Aber
bitte, ich kriege das schon irgendwie hin. Fahre ich eben mit dem Rad. Kannst
ihn dann selbst abholen“, knalle ich im Kasernenton raus.
Es werden drei Gläschen, die ich mit Marlies trinke. Es ist
deutlich nach Mitternacht, als ich heute zum vierten Mal auf der Strecke
zwischen Stadt und Zuhause bin. Ich spüre wie mein Kopf dröhnt, ich spüre, wie
mein Allerwertester auf das harte Leder des Sattels drückt, ich spüre, wie
meine Oberschenkel brennen.
Kurt Tucholsky war ein kluger Kopf.
Schreiben ist wie Küssen, nur ohne Lippen.
AntwortenLöschenSchreiben ist Küssen mit dem Kopf.
Schade, dass solch tolle Kommentare anonym abgegeben werden. (Andere übrigens auch ... ;-))
AntwortenLöschenWenigstens mir gegenüber könntet ihr euch zu erkennen geben, z. B. damit wir uns weiter austauschen können. Das könntet Ihr mit einer PN auf der Facebookseite machen (https://www.facebook.com/pages/Depression-essen-Beziehung-auf-Der-Blog-von-Paul-Kurz/350136621761873) oder in einem separaten Kommentar. Da ich die Kommentare moderiere, werden z. B. E-Mailadressen nicht veröffentlicht. Also .. nur zu.
Liebe Grüße Paul Kurz
Toll geschrieben, ich kann mir die Situation richtig vorstellen. Ich hätte übrigens ähnlich reagiert. Im nachhinein tut es mir dann Leid, weil ich nicht sicher bin ob mein Verhalten angemessen war. Lieber Paul, damit ich nicht anoym bleibe:
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Pius Blym