Paula hat monströse Kopfschmerzen. Nicht das dumpfe übliche Dröhnen
einer wetterbedingten Migräne. Nein, sie krümmt sich unter stichartigen
Schmerzattacken. Über Nacht hat sie bereits 1.200 mg Schmerzmittel eingenommen.
So geht es nicht weiter. Ich werfe das Leergut in die Transportkiste, wir
fahren in die Klinik. Paula checkt in der Notaufnahme ein. Ich gehe einkaufen.
Das wirkt vielleicht ein bisschen herzlos. Aber: Erstens sind es nur zwei Tage bis Heiligabend;
die Weihnachtseinkäufe müssen gemacht werden. Schließlich kommt Lilith über die
Feiertage zu Besuch. Zweitens dauert es meist Stunden, bis alle Untersuchungen
in der Notaufnahme erledigt sind. So auch diesmal. Paula ruft mich nicht an wie
verabredet und so fahre ich die Einkäufe sogar erstmal nach Hause. Als Paula
sich endlich meldet und ich neben ihr auf dem Krankenbett sitze, dauert es noch
eine Stunde, bis alle Formalitäten erledigt sind und ein Arzt ein letztes Statement
zur Diagnose abgibt: „Nichts Spezifisches.“ Mit Paulas Krankschreibung und einem
Rezept für noch mehr, noch höherdosierte Schmerzmittel in der Tasche fahren wir
nach Hause.
Es hilft alles nichts: Paula schleppt sich – von den
Medikamenten reichlich abgeschossen und immer noch mit wildesten Schmerzen – durch
die nächsten Tage. Eigentlich verbringt sie die meiste Zeit im Bett. Wenn sie für
ein paar wenige Stunde aufsteht, stöhnt sie unter den anhaltenden Stichen im
Kopf regelmäßig auf. Die Stimmung ist bei uns allen auf dem Nullpunkt. Weihnachten
können wir abhaken. Wir können nichts unternehmen. Alles, was wir uns
vorgenommen haben, bleibt liegen. Aufgrund der hohen Medikamentendosen muss
Paula jeden Tag zum Hausarzt, um die Blutwerte prüfen zu lassen.
Am 28. Dezember sind die Schmerzen noch schlimmer. Der Hausarzt
weiß sich nicht mehr zu helfen, empfiehlt Paula, bei einem Dermatologen
vorstellig zu werden. Lilith fährt mit Paula in die Klinik. Nur eineinhalb
Stunden später sind sie zurück. Der Verdacht des Hausarztes hat sich bestätigt:
Herpes Zoster. Paula bekommt nun (zusätzlich) andere Medikamente. Das hilft.
Aber Paula ist nun (wie) im Drogenrausch. Die miese Stimmung bleibt. Die Jungs,
Lilith und ich müssen die Tage neu und anders organisieren. Als Lilith wieder
weg ist, bleibt das meiste zwangsläufig an mir hängen. Von dem Urlaub, den ich
genommen habe, habe ich nicht viel.
Heute bin ich mit ein paar Kollegen verabredet, die Einkäufe
will ich vorher erledigen. Deshalb habe ich mit Paula gestern geklärt, wann sie
zu ihrem Termin muss: „Ich gehe um 11:00 Uhr“, hat sie gesagt. Jetzt ist es
10:00 Uhr, ich komme die Treppe herunter und erinnere an die Vereinbarung: „Ich
gehe dann eben mal einkaufen, das schaffe ich ja locker in einer Stunde.“ Paula
reißt die Augen auf, beugt sich leicht nach vorne. Sie sieht jetzt aus wie eine
Hyäne in Angriffsstellung. Wie ein Hyäne kläfft sie auch los – hart und grob: „Sag‘
mal! Hast du mir nicht zugehört? Ich brauche das Auto. Ich muss um 11:00 h bei
meinem Termin sein!“ Ich versuche, den Unterschied zwischen „um 11:00 Uhr gehen“
und „um 11:00 Uhr dort sein“ zu erläutern. Lautstark und giftig führen wir den ebenso
sinnlosen wie stets wiederkehrenden Streit über den Wortlaut des Gesagten. Das
endet auch diesmal in Grundsätzlichem: „Kannst du ein einziges Mal …“, ballert
mir Paula entgegen, „… auch nur ein einziges beschissenes Mal in diesem Leben
auf mich Rücksicht nehmen?“
Mir stockt der Atem. Weniger wegen Weihnachten; sie kann ja nichts dafür. Aber bestimmt wegen all der Jahre mit ihrer Depression. „Zero Tolerance“. Paula sieht
das selbstverständlich genau andersherum als ich. Dennoch oder gerade deshalb
ist mir gerade zum Kotzen.