Das ist uns völlig einerlei. Carine hatte gerade ein bisschen Stress mit dem Türsteher des Ladens um die Ecke. Sie kam nicht rein.
Ich war schon drin. Nun sitzen wir hier. Es ist die Kneipe, die ganz
buchstäblich am nächsten liegt. Wir haben uns drei Monate nicht gesehen.
Gestern gegen Mitternacht schicke ich ihr eine SMS: Ob sie Zeit, Lust und
Gelegenheit hätte, spontan mit mir auszugehen. Sie hat. Das freut mich; ich mag sie.
Sie spricht von Beziehung. Wie immer. Konkret von der
zwischen ihrem Mann und ihr. Er liebt sie nicht mehr. Carine sieht mich fragend
an. Bittend fast. Sie erwartet ein Antwort, einen Kommentar, eine Stellungnahme.
Ich habe einen Rioja und zwei Cuba Libre hinter mir. Ich bin etwas berauscht.
Oder hormonell aufgekratzt. Warum erzählt sie mir das immer? Hat sie denn keine
beste Freundin? Bin ich etwa ihre beste Freundin? Oder: Kann ihre beste Freundin
nichts dazu sagen, weil sie eine Frau ist? Will Carine die Meinung eines Mannes
hören? Will Sie meine Meinung hören? Will sie, dass ich etwas sage wie „So ein
Vollpfosten, wie kann man(n) eine so wundervolle Frau wie dich nicht lieben“?
Ich entscheide mich für eine Variante, der – so kommt es mir in diesem Moment vor
– etwas Trost innewohnt. Gleichzeitig ist es eine exakte Beschreibung meiner
eigenen Gefühlslage.
„Was heißt schon ‚lieben‛?“, stelle ich erstmal in den Raum.
Das Frage- bzw. Erwartungszeichen in Carines Gesicht wird größer. Ich lege
nach: „Weißt du, ich kann die Frage, ob ich Paula (noch) liebe, nicht
beantworten. Was erwartet man denn von ‚lieben‛, was verbindet man damit?“ Wenn
es darum geht, die Schmetterlinge im Bauch zu spüren, die beim ersten Kuss in
einer dunklen Ecke des Kreisgymnasiums aufgeflattert sind oder darum, nochmal
den Adrenalinkick des ersten Pettings zu spüren, dann lautet die Antwort: Nein,
ich liebe sie nicht (mehr).“ Carine nickt. Und versteht. Das sehe ich ihr an.
„Andererseits, wenn ich mir ansehe, was wir gemeinsam erreicht, was wir
miteinander durchgestanden, welche gemeinsame Verantwortung wir in z. B. für
die Kinder übernommen haben, dann lautet die Antwort: Ja, ich liebe sie noch. Ganz
zu schweigen von der Unruhe, die mich beschleicht, wenn Paulas Bett neben mir während
einer ihrer Nachtschichten leer bleibt.“
Ich sehe Carine direkt in die Augen. Traurige Augen. „Ich
wüsste gerne“, sagt sie, „warum er noch bei uns ist. Vielleicht wegen der
Kinder … ich weiß es nicht.“ Sei zieht die Augenbrauen nach oben, sieht mich
an. Verzweifelt. Große Rehaugen. Wie in Trance – aufflatternde Schmetterlinge,
Adrenalinkick oder „Oh La La La“ von The Fugees, das in Diskothekenlautstärke
aus den Boxen stürzt? – hebt sich mein Arm, mit der offenen Handfläche streichle
ich Carine über die Wange, ziehe meine Augenbrauen hoch, sehe sie an, ihre Haut
ist so fein, irgendwie elegant, für mich so anders …
Das Ozean macht dicht. Wir nehmen im Anatoly’s noch
einen Mai Tai, erzählen uns Geschichten aus unserer Halbstarkenphase, lassen uns
Zeit, unbemerkt wird die Uhr umgestellt: Sommerzeit, der letzte Bus ist weg, Carine geht zu Fuß nach Hause, ich nehme ein
Taxi.
Dreieinhalb Stunden Schlaf, Paula kommt von der Nachtschicht
nach Hause, kommt ins Bett gekrochen, kuschelt sich rücklings an mich, ich lege
den Arm um sie, schiebe meine Hand unter ihr Shirt, spüre ihren nackten Bauch, ziehe sie fest nah an mich heran, rieche sie … liebe ich sie (noch)?
Ich schlafe nochmal ein.