Mittwoch, 14. August 2013

The Reputation Effect

870 870 57 – das ist die Nummer von Paulas Dienststelle in der Klinik. Jetzt blinkt sie auf dem Display, während das Telefon läutet. Scheiße!

Wir sitzen beim Frühstück. Kaffeeduft füllt den Raum. Der Kleine hat Brötchen geholt, die Sonne wirft einen goldenen Lichtkegel auf das Parkett. Der perfekte Start in einen schönen Familiensamstag. Paula starrt auf das Telefon. Sie zögert, die Gespräch-Annehmen-Taste zu drücken. Wir „Männer“ starren Paula an. Es ist jedes Mal dasselbe. Jedes Mal, wenn jemand aus der Klinik anruft.

Das erneute Läuten klingt wie der Zahnbohrer in „Der Marathonmann“. Kennten die Kinder den Film, würden sie das auch so hören. Das sehe ich ihren Gesichtern an. „Mama, nimm‘ nicht ab“, sagt der Große, „lass es sein!“ „Das entscheide ich immer noch selbst“, schnauzt Paula. Sie ist nervös. Ich verstehe den Jungen. Wie oft haben wir darüber gesprochen – eben Anrufe aus der Klinik zu ignorieren. Oder Paula gar zu verleugnen. Denn es ist immer dasselbe: Sie werden Paula fragen, ob sie heute einen Dienst übernehmen kann. Weil mal wieder jemand krank ist. Weil die Pflegedienstleitung mal wieder die Urlaubsplanung vergeigt hat. Weil die Schülerinnen gerade ihren Schulblock haben. Letztendlich weil die Spar- und Personalpolitik gnadenlos ist. Deshalb rufen sie aus der Klinik an.

Mir steigt die Galle hoch, die Kinder rutschen von einer Backe auf die andere. Noch einmal bohrt sich das Läuten ins Gehör. Paula meldet sich, geht ins Arbeitszimmer. Vielleicht, um Ruhe zu haben für das Telefonat. Vielleicht, damit wir nicht mitbekommen, was gesprochen wird. Oder vielleicht, damit Paula unsere fragenden, fordernden Blicke nicht aushalten muss.

Es ist immer dasselbe: Paula wird zusagen, den Dienst zu übernehmen. Weil sie keiner Kollegin zumuten möchte, eine Doppelschicht fahren zu müssen. Und weil die Patienten versorgt werden müssen. Selbstverständlich. Aber Paula hat mehr als 1.000 Überstunden angehäuft. Mit einer 50-%-Stelle! Paula wird sich mit versteinerter Miene an den Tisch setzen, kaum mehr ein Wort sagen, kaum etwas essen. Und sie wird den Kaffee kalt werden lassen. Die Kinder werden schweigend noch Nutella-Brötchen essen. Mir ist der Appetit längst vergangen. Ich werde eine Bemerkung über die Klinikleitung machen. Und eine darüber, dass man denen gegenüber Zeichen setzen sollte. Eine weitere darüber, was sich Paula denn noch alles zumuten möchte. Und eine letzte vielleicht über Paulas Prioritäten. Das reißt die Stimmung richtig nach unten. Der Samstag ist sowieso im Eimer.

Heute habe ich Post bekommen. Von meinem Chef. Persönlich von ihm übergeben. Mit ein paar gefälligen Worten. Die beiden Briefe habe ich auf den Nachttisch gelegt. Ich liege im Bett und warte auf Paula. Als sie sich neben mir in ihren Kissen und Decken arrangiert, reiche ich ihr die Chef-Post hinüber: „Heute gab’s noch zwei kleine Überraschungen.“ Paula liest, dass ich rückwirkend zum Monatsbeginn befördert wurde. Ich darf mich nun „Senior“ nennen. Dafür gibt es 8 % mehr Geld. Immerhin. Außerdem – das steht in dem zweiten Brief – bekomme ich einen Spot Bonus. Dafür, dass ich mit meinem Team dieses Monsterprojekt erfolgreich und termingerecht auf die Beine gestellt habe. „Ach Gott, mit 'Herzblut' hat es dein Chef aber“, kommentiert Paula in eigenartigem Ton. „Herzblut“ kommt in den beiden Briefen mindestens vier Mal vor. Es ist eines seiner Lieblingsworte und steht auch in unseren Unternehmensgrundsätzen. Paula legt die Briefe weg, wir knipsen die Lampen aus.

Paula kriecht recht zielstrebig unter meine Decke. Ihre Hände sind plötzlich überall, sie zieht mich aus. Dann sich selbst. Hals über Kopf ist sie über mir. Intensiv und heftig schlafen wir miteinander. Paula fällt auf das Laken zurück. Sie weint. Und das nicht vor Glück. Das kann ich hören. Meine Gedanken fahren Achterbahn. Ich frage: „Was ist denn?“. Paula gluckst und schluchzt noch ein paar Mal, bevor sie wütend antwortet: „Für deinen Spot Bonus müsste ich eine Woche lang extra arbeiten. Ist das nicht ungerecht? Ich reiße mir seit 25 Jahren den Arsch auf in dieser scheiß Klinik. Und was kriege ich dafür? Nur Stress und Ärger, Weicheierkollegen, die ständig krank sind, unfähige Vorgesetzte. Und die Überstunden kann ich im Leben nicht abfeiern.“ … Pause. Schluchzen … „Ich möchte auch mal Anerkennung für meine Leistung bekommen.“

„Und für mein Herzblut.“