Montag, 25. Februar 2013

Götterspeise

Schräg, schräg, schräg. Dieses Wochenende ist schräg. Eine Berg- und Talfahrt. Am Freitag komme ich ziemlich spät heim. Im Büro steppt der Papst im Kettenhemd. Ende nächster Woche haben wir eine wichtige Präsentation. Je später ich freitags heimkomme, desto übellauniger wird Paula. Das weiß ich. Punkt. Schließlich hat das ältere Kind Training. Einer von uns fährt hin. Der andere holt ab. Das ist der Deal. Dazu gehört, dass ich so rechtzeitig heimkomme, dass ich abholen kann. Ich komme rechtzeitig. Aber spät.

Paulas Laune steht wie pappige Götterspeise in der Küche. Sie macht „Garfield“-Lasagne – einfach, schnell und viel. Das mögen die Kinder. Ich sage „Hi“. „Wie geht’s?“, frage ich nicht. Das soll man depressive Menschen nicht fragen, habe ich gelesen. Sie antworten dann mit „Gut“ oder „Geht schon“. Immer offene Fragen stellen, das wird empfohlen. Und loben. „Hey, Garfield! Lecker. Was hat der Tag gebracht?“ frage ich.

Paula sprudelt los. Sie hat Panik vor der kommenden Woche. An keinem Abend sei sie zuhause. Montag Elternabend, Dienstag Kurs halten in der Klinik, Mittwoch Spätschicht, Donnerstag Chorprobe. Von Freitag bis Sonntag ist sie auf einem Kongress. Uff. Mir dämmert: Der Rest des Wochenendes ist auch Götterspeise. 

Trotz Frühschicht mit einer Überstunde ist Paula am Samstagnachmittag zwar müde und unkonzentriert, aber ganz gut drauf. Wir spielen Würfeln mit dem jüngsten Kind. Da läutet das Telefon: Das ältere Kind hat sich beim Auswärtsturnier einen Kapselriss an einem Fingergelenk zugezogen. Der Trainer sei mit ihm auf dem Weg ins Krankenhaus. Klebrige Sauce zur Götterspeise. (Letztendlich ist es nicht so schlimm, wie wir erfahren, als das Team wieder zu Hause einläuft.)

Heute stehe ich in der Küche und brutzle das Stifado. Am Abend habe ich keine Zeit dafür. Paula und ich planen, zum Tanztee zu gehen. Paula kommt herein. Lehnt sich an den Küchenschrank. Blick nach unten. Ich muss nichts fragen. Ich drehe mich nur ein bisschen zu ihr hin. „Mir geht es gerade wieder ganz schlecht“, bestätigt Paula. Tanztee adé. Scheiße.

Wieder kommt mir eine Expertenempfehlung in den Sinn: Bewegung! Bewegung macht den Kopf frei. „Sollen wir eine Runde spazieren gehen“, frage ich. Es schneit. Und das nicht zu knapp. Das Thermometer steht bei fünf Grad unter Null. Ostwind. Super Vorschlag. Paula sagt: „Okay.“ Eingemummelt stapfen wir den Waldweg entlang. Handschuhhand in Handschuhhand. Ich ziehe eine „Das-soll-man-einen-Depressiven-nicht-fragen-Frage“ aus dem Ärmel: „Woran liegst?“ Paula schluchzt. Das ist ein gutes Zeichen: Ein Vorbote einer Antwort.(Experten haben nicht immer Recht.) Klar, Paula weiß nicht, woran es liegt. Aber sie weiß, dass ihr alles und vor allem die nächste Woche wie ein Berg vorkommt, den sie nicht raufkommt. Ich rede ihr den Elternabend aus. Die nächsten zwei Kilometer schweigen wir. Dann erzähle ich von der Präsentation am Ende der Woche. Wieder zu Hause trinken wir mit den Kindern Kakao und essen Hefezopf.

Beim Tanztee treffen wir einen meiner ehemaligen Klassenkameraden. Dessen Frau ist sehr sympathisch. Paula versteht sich sofort mit ihr.

Samstag, 23. Februar 2013

Nimm mich jetzt, auch wenn ich stinke!*

Schallendes Gelächter. Paula liegt auf dem Sofa, zappelt mit den Beinen, schüttelt sich vor Lachen. Mit der Frauenzeitschrift wedelt sie mir vor der Nase herum. Wie Gähnen, ist Paulas Lachen ansteckend; ich lache mit. (Sieht schon ulkig aus, wenn eine erwachsene Frau wie ein Kind strampelt.) „Worum geht’s?“, frage ich etwas schnoddrig. Paula zitiert aus der Frauenkolumne: „Die meisten Junggesellen erinnern sich nicht mehr, wer Bundeskanzler war, als sie zuletzt ihre Bettwäsche gewechselt haben.“

Ich begreife sofort, warum sich Paula schier längs legt: Genau so war es bei mir auch. Kein bisschen anders. Bettwäsche wechseln hielt ich während meines Solistendaseins schlicht für überflüssig. Zu jener Zeit – okay, okay, ich geb’s zu – bin ich ohnehin meist alkoholisiert in die Horizontale gegangen. Und damit geruchssinnbetäubt. Die Theorie, ich hätte gerade mit diesem Ziel regelmäßig getrunken, halte ich für übertrieben, aber nicht für ausgeschlossen. Immerhin waren die Lokalitäten, die ich frequentierte, durchweg Raucherbuden. Habe ja selbst ohne Ende geschlotet damals. Mein olfaktorisches Langzeitgedächtnis lässt mich selten im Stich. (Ich weiß noch genau, wie mein erstes Rockkonzert, Status Quo, 1978, roch.) Das Odeur meiner maximal im Halbjahresrhythmus gewechselten Bettwäsche bauscht sich unter meinen Nasenflügeln auf. Das Schlimmste an der ganzen … Sauerei (?)… war wohl, dass Kissen und Decke tagsüber genau in der Position verharrten, in der ich sie morgens verlassen hatte. Bettmachen, Auslüften? Gott bewahre! Jetzt schüttle ich mich auch.

Heute hat Paula dienstfrei. Theoretisch. Eine Fortbildung steht an. Das ist an und für sich nett. Wir können zusammen und etwas später aus dem Haus als sonst. Aber Paula echauffiert sich (wieder einmal) über den Tag. „Eine Scheiße ist das: Erst hänge ich bis Viertel vor Fünf in der Schulung rum. Wenn ich dann nach Hause komme, kann ich gleich das Kind zum Training fahren. Einkaufen, kochen – alles, alles, alles bleibt immer an mir hängen.“ Dann drückt sie Zahnpasta (Intensive Clean mit Zitronenaroma – für meinen Geschmack zu scharf) auf die Bürste. Zähne schrubbend geht sie ins Schlafzimmer und … macht die Betten.

Ich stehe vor dem Kleiderschrank und suche mir ein Hemd aus. Ich kann Paula im Spiegel sehen. Die Frage „Warum macht sie das?“ geht mir durch den Kopf. Mir wäre das einerseits zu blöd. Die Schärfe der angeblich intensiv reinigenden Zitrone(nchemie) verätzt beinahe die Zunge. Das Gemenge aus Wasser, Pasta und Speichel muss man deshalb ständig im Mund bewegen; Runterschlucken brennte am Zäpfchen. So fuhrwerkt Paula eben mit einer Hand an der Zahnbürste, mit der anderen mehr linkisch als geschickt am Bettzeug herum. 

Andererseits könnte ich Paula jetzt sagen, dass Bettenmachen nicht nötig sei. Vor allem nicht jetzt. Dann aber – Wie oft habe ich diese Erfahrung schon gemacht? Gefühlte zehn Millionen Mal. – dann aber würde Paula losblaffen. Sehr wahrscheinlich mit einer sinngemäßen Frage, wer genau das zu entscheiden habe, was nötig sei. An die mögliche Diskussion über häusliche Ordnung, die Verteilung der Zuständigkeiten oder gar das antiquierte Geschlechterbild in unserer Gesellschaft will ich gar nicht denken. Es ist kurz vor acht Uhr in der Früh. Und ich bin Morgenmuffel. Ich nehme das lila-weiß-karierte Hemd.

Im Bad ziehe ich das Hemd an, verpasse meinen Haaren eine Ladung Wachs und denke an Helmut Kohl. Der war Bundeskanzler, als ich zuletzt meine (Junggesellen)bettwäsche gewechselt habe. Und ich denke an den Mief in dieser Wäsche.

Und der kommt mir irgendwie gar nicht mehr schlimm vor. 


*Der Posttitel ist ein Zitat aus dem Lied "Mief!" von Die Doofen; 1995.

Sonntag, 17. Februar 2013

Ohnmacht - fast.

Unsere Kinder sind die größten Star-Wars-Fans westlich von Santa Fe: „Papa, gut, dass dabei gewesen du nicht bist“, begrüßt mich unser jüngstes Kind in bester Yoda-Grammatik als ich nach Feierabend nach Hause komme. Mein Blick leuchtet wohl wie ein zum Fragezeichen gewordenes Lichtschwert. Deshalb legt das Kind breit grinsend nach: „Genäht worden bin ich!“ In dem Moment kommt Paula aus der Küche. Sie kocht das Abendessen. Stress steht ihr ins Gesicht geschrieben. Fast sieht sie aus wie Villain Silva (Javier Bardem) in dem James-Bond-Streifen „Skyfall“, als er sich die metallene Stütze aus dem vom Arsen zerstörten Gesicht genommen hat. „Kommst du mal bitte, Paul!“ Das Einatmen zwischen „bitte“ und „Paul“ kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit.

In der Küche schildert mir Paula, dass die Kinder im Wald Fangen gespielt haben. Schon auf dem Heimweg sind sie einen Hang hinunter gerannt. Unser Supermotoriker natürlich wieder vorneweg. Irgendwann war die angestrebte Laufgeschwindigkeit zu hoch für die kurzen Beine: Pardauz – direkt mit dem Hüftknochen auf einen kantigen Stein. Geblutet habe es „wie bei einem gestochenen Schwein“, meint Paula, „sei froh, dass du nicht dabei warst. Ich konnte beim Nähen die Knochenhaut sehen.“ Mir wird beim Schreiben noch übel bei dem Gedanken. Ein andermal musste dem Kind eine Kopfwunde genäht werden. Dabei bin ich – oh, Vater, du Held! – beinahe ohnmächtig geworden, hätte ich mich nicht neben mein Kind auf den Behandlungstisch gelegt.

Das ist gut ein Jahr her. Als ich vorgestern nach Hause komme, sind die Kinder oben beim Spielen, Paula alleine beim Kochen in der Küche. Noch bevor ich Jacke und Schuhe verräumt habe, ruft Paula „Kommst du mal bitte, Paul!“ Inklusive des lang gezogenen Einatmens. Ich kenne den Ton, ich bekomme ähnlich weiche Knie, wie damals bei der Kopfwundenoperation.

Paula hadert mit den Rahmenbedingungen für die geplante stationäre Therapie. Die Klinik, die ihr empfohlen wurde, nimmt zwar, wenn alle Stricke reißen, auch Überweisungen vom Hausarzt an, bevorzugt aber eine vom Psychiater. Der hat erst Ende nächsten Monats einen Termin für Paula frei. Dann würde sich der Klinikaufenthalt um mindestens zehn Wochen verschieben. Das ist außerhalb des Zeitraums, in dem ich für die Kinderbetreuung Urlaub genommen habe. Und leider auch in der Zeit, in der es an Paulas Arbeitsplatz Personalengpässe gibt – wegen der Ferien. Deswegen hat Paula ein schlechtes Gewissen: „Wenn ich da auch noch weg bin, gucken mich die Kollegen nie mehr an.“ „Ob dann wohl die Dorfhelferin ausgebucht ist?“, fragt sie sich außerdem. (Ich weiß es doch auch nicht.) Die Krankenkasse übernimmt Betreuungskosten nur für Kinder bis zwölf Jahre. Könnte passen, sofern das Geburtsdatum die Bemessungsgrenze darstellt, nicht das Geburtsjahr. Bei alledem wäre es Paula am liebsten, sie könnte gleich Morgen in die Klinik fahren. Das muss sie mir nicht sagen, es ist offensichtlich: Ihr Gesicht ist jetzt wirklich so eingefallen und fahl wie das von Villain Silva.

Ich versuche sie zu beruhigen, sage etwas von „ungelegten Eiern“, von „Klarheit, die wir uns verschaffen müssten“ und von „in der richtigen Reihenfolge sortieren.“ Das hilft nichts. Der Reis im Topf setzt etwas an. Wir brechen das Gespräch ab. Zuviel geht durcheinander. Im Moment, ganz generell.

Heute am frühen Morgen schlafen wir miteinander. Danach liegen wir wie die Löffel in der Schublade aneinander. Nackt, kuschelig und vertraut. Paula sagt mir, sie habe gestern einen Termin bei ihrer Hausärztin gemacht. Für kommenden Mittwoch. Und sie will die Krankenkasse wechseln. Sie hat eine ausgesucht, die die Dorfhelferin für Kinder bis zu 14 Jahren übernimmt.

Ich ziehe Paula ganz dicht an mich heran. Spüre ihre warme Haut und schlafe ein.

Mittwoch, 13. Februar 2013

Frauengespräche bleiben Frauengespräche

Edoardo leidet unter Depressionen. Und zwar in einem Ausmaß, gegen das sich Paulas Zustand ausmacht, wie Bullenreiten gegen Kutschefahren. Er war lange in stationärer Behandlung, konnte lange gar nicht, später nur gedrosselt arbeiten. Seine beiden Kinder sind „manchmal ziemlich verstört“ deswegen, sagt Imke. Imke ist Edoardos Frau.

Imke ist Paulas beste Freundin. Sie kennen sich seit der 1. Klasse. Fast eine echte Sandkastenfreundschaft. Imke ist auch Paulas Trauzeugin. Und damit meine. Nicht nur deshalb sind Imke und ich auch so eine Art Freunde geworden. Manchmal kommt Imke zu Besuch. Meistens spontan, wenn sie ihre Mutter besucht, die hier in der Nähe wohnt.

Diese Besuche sind ritualisiert: Nach der Begrüßung will Imke die Kinder sehen, die sich dann mehr oder weniger willig blicken lassen. Das ist das Mindeste, was sie für die mitgebrachte Schokolade tun können. Danach setzen wir Erwachsenen uns aufs Sofa und tauschen den neusten – oder den ältesten – Tratsch aus. Über die Entwicklung der Kinder, über das berufliche Fortkommen oder schlimmstenfalls das Wetter. Platzend zwar vor Neugier, aber immerhin trete ich nach einem Viertelstündchen den Rückzug an: „So, ich lass’ euch jetzt mal alleine.“ Frauengespräche, ganz sicher. Vielleicht Ehefrauengespräche. Oder Depressionsbetroffenengespräche. Auf jeden Fall vertraute Gespräche.

Heute lese ich in einem Buch über Depressionen, Angehörige würden nicht allzu oft in die Therapie des Betroffenen eingebunden. Wenn überhaupt, dann nur, wenn sie es selbst anregen. Während Paulas erster Therapie bei Frau Hämmerle, ihrer Psychotherapeutin, hatte ich diese Überlegung Paula gegenüber ins Spiel gebracht. Eine Antwort gab es darauf nie.

Heute hat Paula wieder einen Termin bei Frau Hämmerle. Bevor ich ins Büro gehe, zögere ich einen Moment: Sollte ich Paula fragen, ob wir demnächst einmal zusammen dorthin gehen? Ich frage nicht. Auf dem Weg ins Büro – brrr, saukalt ist es heute – denke ich darüber nach, wie es wohl wäre: Paula, Frau Hämmerle und ich.

Nein, das wird nicht funktionieren. Und nicht nur das. Es wäre schlecht. Paula und Frau Hämmerle kennen sich seit fünf Jahren. Natürlich kennen sie sich gut. Zumindest kennt Frau Hämmerle Paula gut. Bestens sogar. Sie weiß vermutlich Dinge von Paula, die nicht einmal ich weiß. Paula hat sich ihr anvertraut. Paula vertraut ihr. Da soll ich nun reinplatzen? Ein saublöder Gedanke!

Vielleicht sollten Imke und ich, wenn schon nicht Frauengespräche, dann vielleicht Eheleutegespräche oder Depressionsbetroffenengespräche führen. Dann müsste Paula sich nach einem Viertelstündchen von der Tratschrunde zurückziehen.

Auch blöd. Irgendwie. Obwohl … ?

Montag, 11. Februar 2013

Liebe Triebe

Heute ist ein guter Tag. Obwohl Paula arbeiten musste (wie so oft: Frühschicht). Trotz Erkältung, trotz des Routinetermins mit unserem älteren Kind beim Arzt. Und obwohl sie die halbe Nacht – ich zitiere Charles Bukowski – „diese unruhigen Hände“ aushalten musste. Meine Hände.

Freunde, Freunde – honi soit que mal y pense! Sicher, die Nummer (diesen Terminus wähle ich hier selbstverständlich mit Bedacht) hat in gewissem Maße mit (Ge)lüsten zu tun. Doch anders, als so mancher denken mag.

Vielleicht liegt es an der Mondphase (von der ich eigentlich Null Komma Nichts halte). Oder an dem vorherigen Genuss von Ingwer (was zutrifft). Oder meinetwegen an meinem Testosteronpegel. Sei es, wie es wolle, in manchen Nächten träume ich sinnliches Zeugs. Das ist erstens ganz normal. Und zweitens nichts Konkretes. Bis zu einem gewissen Punkt. An dem wache ich auf. Nicht ganz, nicht bis zum vollen Bewusstsein. Aber immerhin so, dass ich meine „unruhigen Hände“ wahrnehme. Die stecken dann meist irgendwo bei Paula. Unter ihrer Decke. Mindestens. Meistens unter ihrem Shirt. (Hatte ich schon erwähnt, dass ich dermaßen auf ihren definierten Bauch abfahre?)

Heute Nacht habe ich (m)eine Hand also wieder unter Paulas Shirt. Genau genommen stimmt das nicht: Ich habe das Shirt schon nach oben geschoben, die Decke beiseite. Als mein Bewusstsein soweit aktiviert ist, dass ich begreife, was passiert, stelle ich fest, dass ich Paulas Busen mit meiner Hand bedecke. (Meine Hand ist nicht sehr groß. Trotzdem bedeckt sie Paulas Busen komplett. Ich bitte alle Feministinnen mir diese Bemerkung nachzusehen, aber das ist – was Paulas körperlichen Merkmale anbetrifft – die Nummer Zwei in meiner Sexyness-Rangliste. Nach dem Waschbrettbauch.) Meine Hand wäre keine „unruhige“, würde sie nicht fortfahren, Paula weiter zu … hüstel, hüstel … bespielen.

Natürlich wird sie davon wach. Und es wird ihr kalt. Draußen herrschen 15°C minus; wir haben das Fenster immer offen. Reichlich brüsk zieht sie ihr Shirt nach unten, zerrt die Bettdecke bis über ihre Schultern hoch und dreht mir den Rücken zu. In meinem Traumdusel begreife ich, dass sie genauso genervt ist von meiner „Handarbeit“ wie Charles Bukowski seinerzeit von der seiner nymphomanen Lebensgefährtin.

Paula kommt mit dem älteren Kind vom Arzttermin zurück und hat Kuchen mitgebracht. Wir machen ein Familienkaffeekränzchen. Das ist ebenso nett wie selten. Alle sind gut gelaunt; wir lachen viel und spielen noch eine Runde Trivial Pursuit, die wie üblich das jüngere der Kinder gewinnt, weil es noch die Junior-Fragen gestellt bekommt. Nach dem Spiel – die Verlierer müssen stets zusammenräumen – bleiben Paula und ich noch ein Weilchen am Tisch sitzen. Wir sehen uns in die Augen. (Ist in der letzten Zeit nicht oft vorgekommen!) Ich muss grinsen: „Na, habe ich dich heute Nacht wieder genervt?“ Paula rollt mit den Augen: „Oh ja.“ Sie steht auf kommt zu mir rüber. Ich sage: „Sorry, tut mir Leid. Ich mache das ja nicht absichtlich. Ich merke das erst, wenn ich selbst davon aufwache.“ Mit einem verzogenen Lächeln lege ich nach, während Paula schon auf meinem Schoß sitzt: „Und wenn ich dann wach bin, finde ich es eigentlich ganz … nett.“

Paula muss lachen, drückt mir einen Kuss auf die Wange und sagt: „Ach, du und deine Triebe.“

Sonntag, 10. Februar 2013

Solostimme

Paula und ich haben vor knapp 30 Jahren Abitur gemacht. An derselben Schule, in derselben Jahrgangsstufe. Sogar in denselben Leistungsfächern. Der musische Zweig dort war der einzige im Landkreis; ist es auch heute noch. Leistungsfach Musik – man stelle sich das vor. So gibt es auch einen Mädchenchor. Der hat – es mag Ende der 1970er Jahre gewesen sein – eine Schallplatte aufgenommen. Auf der Rückseite des Covers gibt es ein Foto. Die meisten Mädchen darauf kenne ich. Schließlich habe ich inklusive einer „Ehrenrunde“ zehn Jahre an der Schule verbracht. Neben Paula steht Margareth auf dem Foto. Sie ist eine sehr gute Freundin aus – na klar – Jugendtagen. (Paula war das seinerzeit noch nicht. Sie war in der Klasse „C“, ich in der „B“. Undenkbar, mit einem Mädchen der anderen Klasse herumzuscharwenzeln.)

Margareth treffe ich nach einigen Jahren wieder. Leider bei der Trauerfeier für ihre verstorbene Mutter. Hier kommen viele Menschen zusammen, die von den alten Zeiten erzählen. Wie so oft kommt das Gespräch auf Paula und mich. Schließlich sind wir das einzige Ehepaar der Jahrgangsstufe. Die Konflikte „C“ gegen „B“ sind längst Geschichte. Margareth erinnert sich an den Mädchenchor. Paulas Stimme habe sie „immer als unangenehm schrill empfunden.“ Ich bin von der Trauerstimmung und dem Weißwein schon ziemlich neben der Spur. Ich drücke den unpassenden Spruch raus, dass Paulas Stimme in gewissen Situationen tatsächlich schrill klinge. „Das“, füge ich hinzu, „das ist dann aber überhaupt nicht unangenehm.“ Den vielsagenden Blick, den ich dabei aufsetze, würde Jack Nicholson zur Ehre gereichen. Trotz des Anlasses habe ich die Lacher auf meiner Seite und kann verschleiern, dass die Wahrheit doch ganz anders ist. Mittlerweile.

Paulas Stimme war in gewissen Situationen tatsächlich schrill. Einmal pochte der Nachbar mit dem klischeehaften Besenstiel von unten an die Decke. Es war zwei Uhr nachts. Das ist nie mehr passiert. Die späteren Wohnungen hatten dickere Wände, die Häuser waren freistehend, wir wurden einfach älter, Paula – bekanntermaßen – krank.

Eben sucht unser älteres Kind seine Sporthandschuhe, die Paula waschen wollte, es aber nicht geschafft hat, weil es ihr schlicht mies geht. „Mama, wo sind meine Handschuhe?“ Die Frage erwischt Paula auf dem falschen Fuß.

Ich bin ich der Küche, ca. zwölf Meter Luftlinie von Paula entfernt, eine Etage tiefer. Ich verstehe nicht wörtlich, was sie faucht, aber es tut mir in den Ohren weh. Dem Kind offenbar auch. Panisch, wirklich panisch stammelt es: „Schon gut, Mama, schon gut. Schon gut. Ich habe ja nur gefragt. Bitte Mama, Mama schrei‘ nicht so. Alles gut, ich nehm‘ die alten Handschuhe."

Morgen habe ich einen halben Tag Urlaub. Ich werde wohl mit den Kindern sprechen. Über Margareth. Und selbstverständlich über Paula.

Freitag, 8. Februar 2013

Feierabendfreitag

"Rettet den Feierabend“ – das ist die Titelgeschichte des „stern“ in dieser Woche. Damit habe ich heute meinen Chef aufgezogen. Das ist kein Problem. Er kennt mich. Außerdem sind wir per Du. Wir sind alle per Du in der Firma. Das soll so sein. Laut den sogenannten Policies unserer US-amerikanischen Konzernmutter. In diesen Grundsätzen ist auch die Arbeitszeit geregelt. Selbstverständlich ist die Arbeitszeit darin geregelt. Aber auch, wie diese Zeit aufzuteilen ist: Montag bis Donnerstag achteinhalb Stunden, am Freitag sechs. Wenn man, wie ich, um 8:30 Uhr kommt, kann man um 15:30 Uhr Schluss machen. (Mittagspause dazwischen muss sein!)

Das klappt fast nie. Meistens mache ich die 42 Stunden voll. (Rechnerisch. De facto sind es – „das wird von den Amerikanern erwartet“ – mehr.) Heute bin ich um 16:55 Uhr rausgekommen. Immerhin. Und doch blöde. Wahrscheinlich werden Paula und unser älteres Kind an mir vorbei fahren. Auf dem Weg zu dessen Training. Paula hatte wieder Frühschicht. Sie kann es gar nicht leiden, so knapp nach Dienstschluss wieder in die Stadt zu fahren. Doch Taxi Mama versteht sich als Dienstleistungsunternehmen. Wundervoll. 

Heute sind die beiden noch nicht losgefahren. Irgendeine Trainingsjacke wird noch gesucht. Begleitet von lautstarkem Gezeter. Taxi Papa also. Würde sich anbieten. Ich lasse Jacke und Schuhe an, bleibe einfach an der Garderobe stehen, bis das Gezeter Zimmerlautstärke erreicht hat. Die Trainingsjacke taucht nicht auf. Paula zieht ihren Parka an. Ich sage: „Ich fahre.“ Paula sagt: „Ich fahre.“ Ich sage: „Hä?“ Paula sagt: „Du kannst ja nachher abholen.“

Gut, gut, gut … ich konnte zwar heute einigermaßen zeitig Feierabend machen, hatte aber an zwei Tagen hintereinander längere Konferenzen auswärts bei Kunden und heute war der Unternehmenscoach da. Ich bin einigermaßen platt. Auf dem Sofa zu hocken und eine schöne CD zu hören, wäre schon nett. Für den Hauch einer Sekunde drohe ich, diesem Gedanken nachzugeben. Eine Sekunde nur. Dann sage ich, „Wieso das denn? Ich stehe hier gestiefelt und gespornt. Es macht überhaupt keinen Sinn, wenn du dich jetzt anziehst.“ Ich bin mir nicht sicher, ob Paula „na gut“ oder etwas Ähnliches gesagt hat. Ich bin einfach losgegangen. Hinter dem Kind her.

Nachdem ich zurück bin – die Hin- und Rückfahrt dauert insgesamt kaum eine Viertelstunde – räume ich noch den Schnee vom Parkplatz. Als ich nach oben komme, sitzt Paula auf dem Sofa und hört eine schöne CD.

Das ist nett.

Mittwoch, 6. Februar 2013

(K)eins

Schnell! Schnell, die Decke weg. Tu die verdammte Decke weg! Den Bauch, zeig mir deinen Waschbrettbauch! Nur den Bauch. Nicht! Nein, lass’ das Shirt noch an. Nur den Bauch will ich sehen. Der Hammer. Macht mich an. Bin ganz hart. … Komm, fester. Ja! Gut. Ich bin scharf auf dich. Ich will dich. Jetzt. Hier. Du bist ganz heiß. Jesus, dieses Waschbrett. Spürst du mich? Ja? Spür’, wie ich glühe? Ich sehe dich an. Ich will mehr. Alles. Dich. Zieh’ das Shirt aus. Ja so! Halt! Lass’ die Arme da liegen. Ich will dich. Und ich will dich sehen. Will dich sehen. Unter mir. Jetzt. Waschbrett. Busen. Arme. Muskulös. Dein Gesicht. Du. Du. Du. Du. Schnell, dreh’ dich auf die Seite. Wie immer. Komm. So. Ja. Ich spüre dich. So hast du es gern. Gern hast. Du. Komm. Ich will dich hören. Ich höre dich nicht. Jetzt. Ja. Ja. Ja. Für dich. Ein Wahnsinn. Und zurück. Komm’ zurück. Auf den Rücken. Schnell. Ich heiß. Du heiß. Bauch. Waschbrett. Körper. Du. Ich. Ganz nah. Ineinander. Sieh’ mich an. Glut. Heftig. Takt. Schnell. Schneller. Ich. Du. Du. Ich. Wir. Eins. Eins … eins ……… eins …………………..eins. !

Stattdessen liegt Paula nur da. Sie hat sich steif gemacht wie ein kleines Kind, wenn es von Fremden auf den Arm genommen wird. Ich verharre. Meine Hand liegt auf ihrem Waschbrett.

(Kranken)(not)stand

Ich bin heute Abend mit Fritz verabredet. Endlich mal. Wir reden schon seit Monaten darüber, uns mal zu treffen. Aber – wie es so ist – geklappt hatte es bisher nicht. Nervig bloß, dass Fritz sich direkt nach Feierabend treffen will. An und für sich kein Thema; für ihn heißt das allerdings schon um 18 Uhr. Üblicherweise muss ich da noch ein halbes Stündchen arbeiten. Aber: Lässt sich alles einrichten.

Paula ist heute mit Frau Hämmerle, ihrer Psychotherapeutin, verabredet. Gemeinsam wollen sie klären, wie ein möglicher Klinikaufenthalt für Paula organisiert werden kann und welcher Arzt, was, in welcher Form verschreiben soll, damit die Krankenkasse so viel wie möglich übernimmt.

Die ganze Nacht wälzt sich Paula im Bett herum. Ich mich irgendwann auch. Selbst als ich meinen Arm unter ihr herschiebe und sie an mich ziehe, kann sie nicht still liegen. Ich kenne sie. Ich spüre ihre Anspannung. Nachdem sie neulich schon – ’tschuldigung - zu nichts zu gebrauchen war, als sie vom Termin mit Frau Hämmerle kam, ist mir völlig klar, woher die Unruhe kommt.

Ich rasiere mich gerade, als das Telefon klingelt. „Nicht schon wieder“, denke ich und nehme an, es sei unser Kind, das, wie schon vorgestern, den Bus verpasst hat. Die Uhrzeit stimmt. Aber es ist Frau Hämmerle. Sie ist krank. Das erfahre ich, als ich quasi schon aus der Haustüre bin. Paula sieht mich mit leeren Augen an. Ich denke „Scheiße“. Ich muss los; der Bus wartet nicht.

Auf dem Weg ins Büro überschlage ich, wie lange Fritz und ich es wohl aushalten, wenn wir uns schon um 18 Uhr treffen. Nun denn, bis 21 Uhr sicher. Vielleicht länger. Länger als bis 23 Uhr eher nicht. Ich habe Morgen einen Kundentermin, muss deshalb eine halbe Stunde früher los als sonst. Wäre gut, ich könnte Paula noch mindestens ein halbes Ohr leihen, wenn ich nachhause komme. Hören, wie es ihr geht.

Die erste Bürostunde ist noch nicht um, als Paula anruft: Der von Frau Hämmerle empfohlene Spezialist hat erst Ende nächsten Monats einen Termin frei. Paula ist verzweifelt. Ich nenne ihr die Adressen, die mir neulich empfohlen wurden. Da will sie nicht hin. Frau Hämmerle wisse schon, was richtig für sie, Paula, sei. Ich schlage vor, sie solle Frau Hämmerle doch noch mal anrufen. „Ja vielleicht“, antwortet Paula, „aber erst heute Nachmittag“. Sie zögert einen Augenblick. „Ich, ich“, sie schluchzt, „ich weiß nicht wie das alles laufen soll.“

Auf dem Weg zum Treffen mit Fritz habe ich Bauchschmerzen.

Dienstag, 5. Februar 2013

Na dann: Guten Appetit!

Verdammte Hacke! Muss ich mich denn schon wieder aufregen? Ey!

Meine rechte Hirnhälfte liegt im Zwist mit meiner linken. Das ist mir in der Regel egal. Wenn mir etwas nicht passt, lass‘ ich das raus. Ich gucke dann, wie diese Griesgrame auf Illustrationen antiker Märchenbücher. (Manchmal fühle ich mich ja auch so.) Ich werde auch gerne zynisch. Oder boshaft. So wie Danny DeVito, würde er mal Schneewittchens Mutter spielen. Verluste – z. B. von Sympathie – nehme ich in Kauf. Kann ich mir erlauben. Bin ja alt genug. Mann!

Bei Paula ist es mir nicht egal. Erfahrung, Bücher von mehr oder weniger schlauen Experten und hilfsbereite Menschen haben mich gelehrt, die linke Hirnhälfte gewinnen zu lassen. Cool zu bleiben. Nicht allzu emotional zu reagieren. Abzuwägen. Letztendlich Paula nicht zu überfordern. Anders gesagt: Einfach die Fresse halten. Das ist die Theorie.

Und das die Praxis: Verdammte Hacke! War nicht klar, dass wir diese Woche in den Tanzzirkel gehen (siehe Post „Totentanz“)? Klar, Paulas Kollegin Sigrid veranstaltet am selben Abend ihr schon lange angekündigtes Kohl-und-Pinkel-Essen. Aber hatten wir nicht gestern noch darüber gesprochen, wie wir organisieren könnten, auf beiden Hochzeiten zu tanzen (– ganz buchstäblich). Nun eröffnet mir Paula, dass sie „schon irgendwie“ lieber zu Sigrid gehen möchte.

Meine rechte Hirnhälfte setzt die ersten Botenstoffe frei, die mich in Kürze in einen märchenhaften Griesgram oder einen Klon von Danny DeVito verwandeln werden. Ich kriege gerade noch die Kurve, gehe zurück zum Esstisch und wische ihn ab. Derweil brabble ich etwas von „Hättest mich ja ruhig mal anrufen können. Hätte dann versucht, mit der Tanzschule einen Ausweichtermin zu finden. Jetzt ist es natürlich zu spät. Typisch – diese Entscheidungsfreude …“

Wie die Stihl MS 391 in eine deutschen Eiche kreischt meine Ratio in diesen Gedanken. Stopp! Paula möchte da hingehen. Das hat sie für sich entschieden. Das ist gut und wichtig. Lass’ ihr den Raum. Gib’ ihr das Gefühl, dass diese Entscheidung richtig, dass sie selbst etwas wert ist.

Zurück in der Küche schaffe ich ein einigermaßen glaubwürdiges „Na gut.“

„Wir können“, schicke ich noch hinterher, „demnächst mal mit Nina und Christoph tanzen gehen.“

Sonntag, 3. Februar 2013

Alarm

Es schmerzt! Dieser gottverdammte Wecker! Unerbittlich bohrt er seinen digitalen Ton in meinen Gehörgang. Das nervt. Ich drehe mich um. Ich kann noch ein Stündchen pennen. Paula hat Frühschicht. Nur halb bewusst höre ich, dass Paula das Schlafzimmer verlässt. Alles wie immer.

Nein – nicht wie immer. Überhaupt nicht: Paula kommt zurück ins Bett. Stante pede bin ich wach. Elektrisiert. Paula legt ihren Kopf auf meine Schulter. Hier stimmt etwas nicht. Ganz und gar nicht. Irgendwie presse ich ein fragendes „Hmmmh?“ heraus, das ich ganz hinten am Gaumen erzeuge. Paula flüstert. Kaum hörbar. „Ich gehe heute da nicht hin.“ Ein neuer Stromstoß durchzuckt mich. „Ich gehe heute da nicht hin.“ Trotz des sonoren Tonfalls, sticht dieses „da“ ganz gewaltig hervor. „Da!“ Das klingt wertend. Negativ. Paulas ganze Abgespanntheit, ihre Labilität, ihre Grübelei, alles, alles, alles entlädt sich in diesen zwei Buchstaben.

Es ist das erste Mal, dass Paula nicht zur Arbeit geht, weil sie einen depressiven Schub hat. Die Synapsen in meinem Kopf spielen verrückt. Den Ernst der Situation überblicke ich in wenigen Sekunden. Es geht um Paula. In erster Linie geht es um sie. Selbstverständlich geht es um sie. Nicht arbeiten zu gehen, ist ein neues Symptom. Ihr Gesamtzustand verschlechtert sich. Mein Puls pocht in den Schläfen. Mit weit geöffneten Augen starre ich an die Decke. Nichts. Es ist noch dunkel.

Es geht auch um uns. Wir können uns das finanziell nicht leisten. Falls – ich betone: falls – Paula nicht mehr arbeiten könnte. Mittelfristig. Der Glühfaden des „Tilt“-Lämpchens im meinem Kopf beginnt zu glimmen. Gleich gehen alle anderen Lämpchen aus. Fürchte ich. „Ich brauche einfach im Moment noch etwas Zeit“, haucht Paula da. Uff! Das kann man als eine Art Entwarnung verstehen. Eine gewisse Perspektive schwingt mit. Eine gewisse. Naja.

Ich kriege es hin, ihr zu vermitteln, dass es okay ist. „Bleib‘ zuhause, wenn dir danach ist.“ Ich rate ihr, in der Klinik (in der sie arbeitet) anzurufen, um sich krank zu melden. Das hat Paula schon gemacht. Immerhin! Sie ist also einigermaßen klar und sachlich an die Sache rangegangen.

Ich stehe auf. Versorge die Kinder. Keines fragt, wo Mama ist. Vielleicht haben sie nicht bemerkt, dass die Tasche noch auf der Garderobe steht. Vielleicht! Als ich zur Arbeit gehe, die Kinder sind schon zum Bus gegangen, rufe ich, „Bin dann weg!“, nach oben. Von Paula kommt nur ein leises „ja“ zurück.

Im Büro rufe ich Paulas Schwester an. Noch bevor ich meine Jacke ausgezogen habe. Selbst die Wollmütze habe ich noch auf. Ich will mich mit meiner Schwägerin beraten. Darüber, ob ich Paula in eine psychiatrische Klinik bringen sollte, wenn ihr Zustand anhält bzw. sich weiter verschlechtert. Paulas Schwester ist schockiert. Eine Stunde später ruft sie mich zurück. Sie könne Paula nicht erreichen. Nicht auf dem Festnetz. Nicht auf dem Handy. Sie fahre jetzt zu ihr.

Der Bürotag ist gelaufen. Ich kriege nichts mehr auf die Reihe.

Samstag, 2. Februar 2013

Totentanz

Liebe Freunde vom Tanzzirkel,

es ist Euch nicht verborgen geblieben, dass es Paula nicht gut geht. Vorletzte Woche schon hatte Fritz sie in seiner spontanen Art darauf angesprochen. Letzte Woche nun waren wir danach beim üblichen Umtrunk „Bei Tanja“ ohne Vorwarnung nicht dabei.

Paula leidet an Depression und der letzte Tanzabend war der traurige Höhepunkt eines Schubs, der sie (und letztendlich uns alle irgendwie) seit ein paar Wochen plagt. Deshalb werden wir den Tanzzirkel aufgeben müssen. (Ich hoffe: nur vorerst.) Es tut Paula und mir unendlich leid, aber es ist so das Beste.

Letzte Woche dachte ich, ich tanze mit einer Toten. Da war keinerlei Spannung mehr in Paulas Körper. Nicht Mal – Ihr habt es vielleicht sogar bemerkt – die Grundhaltung klappte; ich musste nicht nur meine Arme hochhalten, sondern auch Paulas. Ich muss zwar schmunzeln, wenn ich daran denke, mit welcher Konsequenz und Vehemenz unser Tanzlehrer Sammy versucht, uns Haltung reinzubimsen, aber es war schlicht fürchterlich. Weniger wegen der Kraft, die ich aufwenden musste, als vielmehr, Paula so erleben zu müssen.

Auch über Sigmars wie immer sensationellen Sprüche konnte Paula nicht lachen. Ihr Kopf war ebenso tot, wie ihr Körper. (Nebenbei @Sigmar: Ich könnte mich wegschmeißen, sobald Du in diesem derben Dialekt deine Zoten zum Besten gibst.)

Auf dem Heimweg dann hat Paula mir gesagt, dass der Abend (auch) für sie unerträglich war. Sie wisse nicht, ob sie diese Tanzsaison durchhalten würde. Ich habe ihr zu verstehen gegeben, dass ich das schade fände. (Wenngleich in aufgebrachterem Ton und anderer Wortwahl als hier dargelegt – Ihr kennt mich.) Vor allem, weil ich eben glaube, dass Paula Eure Gesellschaft sehr sehr gut tut. Sie bestreitet das derzeit, möchte lieber „einfach zu Hause bleiben und im Bett liegen.“ Ich weiß, das stimmt nicht; Paula kann das derzeit nur weder richtig wahrnehmen, noch ausdrücken.

Ich weiß auch, dass Ihr versteht, dass diese Entscheidung vor allem für Paula (trotzdem) die richtige ist. Und Ihr ahnt, dass es eine der schwersten ist, die wir in der letzten Zeit treffen mussten. Ich denke, ich spreche für uns alle, wenn ich sage, dass wir die gemeinsamen Tanz- und sonstigen Stunden sehr genossen haben. Ich wünsche mir (Paula sich sicher auch), dass wir uns weiterhin so oft wie möglich sehen.

Meldet Euch, wenn Euch danach ist.

Liebe Grüße P

Diesen Brief hatte ich im Kopf. Bis heute Morgen. Noch vor dem Frühstück spricht Paula das Thema von sich aus an. Sie möchte „eigentlich weiter in den Tanzzirkel gehen“. Ich widerspreche nicht, nehme Paula einfach in den Arm.

Wir hören, dass die Kinder freiwillig den Frühstückstisch decken. Das freut uns, auch wenn sie sich dabei streiten.

Freitag, 1. Februar 2013

Hundehasser

„Papa, kriegen wir einen Hund?“ Wer Kinder hat, kennt diese Frage. Meine Antwort (und auch Paulas, das ist klar) lautet: Nein! Und das seit Jahren. Da bin ich/sind wir konsequent.

Deshalb bin ich kein Unmensch. Etwa weil ich meinen Kindern einen Herzenswunsch abschlage. Das ist wirklich nicht der Punkt. Wer kennte die Standardausflüchte nicht? „Kinder, wer geht denn dann morgens mit dem armen Tier raus?“, „dann können wir aber nie mehr nach Spanien fahren, ohne den Hund impfen zu lassen“ oder gar „ICH putze aber die Lache nicht weg, wenn der Mal ins Wohnzimmer pinkelt“. Doch auch das ist nicht der Punkt.

Mann, Paul, jetzt komm‘ schon rüber. Worum geht‘s hier? Gut, gut, gut – calma amigo. Auf dem Weg zum Bahnhof komme ich an einer Gründerzeitvilla vorbei, in der eine etwas tüddelige ältere Dame wohnt. Sie geht etwas gichtig und macht auch sonst nicht den fittesten Eindruck. Ist aber stets tipptopp gekleidet. Fast jeden Morgen, wenn ich vorbeigehe, bugsiert sie ihren schneeweißen Mercedes SLK durch das schmiedeeiserne Tor, um ihre beiden Hunde zu einem – so vermute ich – adäquaten Gassiplätzchen zu kutschieren. Diese beiden Hunde könnten Pat & Patachon heißen. Der eine (Typ spitzgedackelter Windhundpudel) ist klein, kurzbeinig und schiefzahnig; sein Fell enthält alle vorstellbaren Brau- und Beigetöne. Der andere ist ein reinrassiger schwarzer Riesenschnauzer. (Wäre ich boshaft, würde ich vermuten, den kurzbeinigen Wuffi hat die Dame zu dem Rassehund dazubekommen. "Pay one, get two“ sozusagen.)

Eines Herbstabends, es ist schon dunkel, fährt die Dame gerade mit ihrem Snow-White-Schlitten vor, als ich vorbeigehe. Sie kommt wohl gerade vom zweiten Gassigang des Tages zurück. Sie öffnet die Beifahrertür, um die Hunde rauszulassen, just in dem Moment als ich auf Höhe des rechten Torbogens bin. Das heißt, ich befinde mich genau zwischen Auto und Grundstück der Lady. Der schwarze Riese empfindet das wohl als Eindringen in seinen anbefohlenen Schutzbereich. Tobend, bellend, sabernd und mit voller Wucht geht das dumme Vieh an mir hoch. „Auge in Auge mit dem schwarzen Monster“ wäre der Filmtitel, in dem diese Szene vorkommt. Vom Maulgeruch mal ganz abgesehen.

Die Bestie rast. Mein lieber Scholli, hast du eine Ahnung, wie viel bewegte Maße da auf dich zukommt? Hast du eine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn dich ein solcher Köter anbrüllt und seine Lefzen dabei deine Nasenflügel berühren. Und nochmal: Von dem Todeshauch mit Ursprung im Verdauungstrakt spreche ich gar nicht!

Ich taumle, kann mich eben noch an dem Torbogen abstützen. Die Lady, zierlich, klein und alt, kann das Vieh nicht bremsen: „Der will doch nur spielen!“ (Okay, ein blöder Witz; das hat sie selbstverständlich nicht gesagt.) Ich schreie gegen das Gebell an. Das hilft. Dennoch schnappt die Bestie nach meinem Oberarm. Und beißt zu. Zum Glück habe ich die Lederjacke an. Die hat zwar jetzt zwei Löcher, dafür aber mein Arm nicht. Erst zu Hause nehme ich wahr, dass die Krallen ein Loch in Jeans und Oberschenkel gerissen haben. Frau Doktor hat das in meinem Bein am nächsten Tag desinfiziert und mir eine Tetanusspritze verpasst.

So! Das ist der Punkt, warum meine/unsere Kinder keinen Hund bekommen. Hunde sind mir seither mindestens suspekt. Vor allem große schwarze.

Warum ich diese Geschichte erzähle? Naja, seit einigen Jahren haben wir nun doch einen großen schwarzen Hund. Einen sehr großen sogar. Und der kann auch gewaltige Wunden reißen. (Aus dem Maul stinkt er, Gott sei Dank, nicht.) Wer das Buch „Mit dem schwarzen Hund leben: Wie Angehörige und Freunde depressiven Menschen helfen können …“ (von Matthew und Ainsley Johnstone) kennt, weiß was ich meine.

Ich bin mir darüber im Klaren, dass diese Abbildung aus dem o. e. Buch urheberrechtlich geschützt ist. Mit der Verwendung verfolge ich keinerlei kommerzielle Interessen. Ich hoffe, die Rechteinhaber sehen das genau so und freuen sich, dass ich das Buch gerne empfehle.