Samstag, 23. November 2013

Entscheidungen II

„Montags, immer montags“. Paula und ich schauen uns ratlos an. Dann sehen wir zu Frau Schwarz hinüber. Sie ist die Klassenlehrerin unseres Jüngsten. Ihr sei aufgefallen, dass er in der Schule meistens montags fehlt, wenn er fehlt. Diese These nervt mich. In wenigen Sekunden hake ich sie innerlich als typisches Lehrergewäsch ab. Obwohl ich Frau Schwarz sehr schätze: Sie ist stets auf der Seite ihrer ABC-Schützen, immer extrem gelassen und mit fast vierzig Jahren Erfahrung gesegnet. Vielleicht ist es das, was Paula zum Nachdenken bringt. Und zu dieser Frage: „Haben Sie eine Übersicht?“ Selbstverständlich hat Frau Schwarz die Liste mit den Fehltagen griffbereit.


Die vergleicht Paula mit ihren Dienstplänen im Taschenkalender. Bingo! Bauchweh, Knie-Aua oder sonstige objektiv nicht nachprüfbaren Bedarfs- und Spontan-Krankheitsbilder treten auf, wenn Paula übers Wochenende Nachtschicht hat. Der Lütte will die Mama mal einen halben Tag für sich alleine haben. Und sei es nur, um neben ihr zu dösen, während sie sich nach der Schicht ausschläft. Das passt alles zusammen. Der Kleine ist sehr auf Paula fixiert. Und Paula auf ihn – er ist das Nesthäkchen. Es fällt uns beiden schwer, loszulassen, als er in den Kindergarten und später in die Schule kommt. (Beim Start in die Realschule sind wir dann schon eher stolz, denn ängstlich.)

Heute wollen – vielleicht auch müssen – wir den Kindern sagen, dass Paula in „Kur“ (auf diesen Begriff haben wir uns verständigt) gehen wird. Wir sind früh wach; Paula ist nervös: Hibbelig wälzt sie sich im Bett herum. Ich lasse ein fragendes „Hmmh“ verlauten. „Boah nee“, sagt Paula, „das wird mir der Kleine so was von übel nehmen.“ Mein Hinweis auf das fortgeschrittene Lebensalter des Juniors dämpft Paulas Angst nicht. „Mit gnadenloser Verachtung strafen wird er mich. Und kein Wort mehr mit mir reden“. Das ist, zumindest für ein paar Tage, nicht unwahrscheinlich. Der Junge kann ein vortrefflicher Brettschädel sein. „Wir müssen deine Therapie halt so erklären, dass er – dass beide Kinder – begreifen, dass das für uns alle eine Chance ist“. Ich bin nicht sicher, ob ich selbst an diesen Satz glaube.

Gegen Ende des Frühstücks starren Paula und ich auf unsere Teller. Ich zähle langsam bis Zehntausend, dann sehe ich Paula an. Die Tränen stehen bereits auf ihren Unterlidern. „Leute“, sage ich mit angestrengt fester Stimme, „wir müssen was mit euch besprechen." Die Jungs befürchten wohl neue Haushaltsaufgaben und reagieren entsprechend pubertär enerviert. Paula kriegt es irgendwie hin, dass ihre Stimme nicht zittert, als sie schildert, was in vierzehn Tagen auf uns alle zukommt. Kaum ist das „ … für fünf Wochen weg“ verhallt, fangen beide Jungs an, hemmungslos zu weinen. Der Kleine schlüpft auf Paulas Schoß, klammert sich um ihren Hals. Bei Paula brechen alle Dämme; ich beiße mir gewaltig auf die Zunge.

Am Nachmittag spielen wir Scrabble und ein paar Runden Uno. Trotzdem fühlt sich der Rest dieses Sonntags an wie einer in der überheizten Atmosphäre eines Krankenhauszimmers.

Am nächsten Morgen ist der Kleine krank: „irgendwie Bauchweh“. Natürlich ist heute Montag.


Samstag, 16. November 2013

Zwischenruf

Die Kinder sind kicken, Paula beim Frisör. Im Nachbarort. Sie wird in einer halben Stunde wieder da sein. Ich genieße die paar Minuten alleine zuhause, habe die  Stereoanlage voll aufgedreht. (Nachbarn und Vermieterin sind wohl einkaufen. Oder lärmtolerant.) Queen dröhnen mit geschätzten 120 Dezibel aus den Boxen: „Abandoned places – I guess we know the score. …”

Klingeling. Klingeling – das Telefon. Ich höre es kaum. Klingeling. Nach dem vierten Mal schaltet sich der Anrufbeantworter auf. Mit einer Hand reiße ich das Hand-held aus der Basisstation. Mit der anderen würge ich Freddy Mercury mit einem Druck auf die Pause-Taste ab.

„Paul Kurz, guten Tag“, sage ich. „Hallo Herr Kurz“, antwortet es vom anderen Ende der Leitung. Die Frauenstimme kommt mir entfernt bekannt vor. In den paar hundertstel Sekunden, die vergehen, bis weiter gesprochen wird, kann ich sie nicht zuordnen. „Hier spricht Brigitte Hämmerle“. Noch immer macht es nicht „klick“ in meinem Kopf. „Äh, ja …“ ich zögere. Einen Wimpernschlag lang vielleicht. Dann fällt der Groschen: Brigitte Hämmerle. Das ist Paulas Therapeutin. Sie ist krank. Paula hat mir das vor Monaten schon erzählt. Paula ist traurig deshalb. Sie versteht sich so gut mit Frau Hämmerle. Sie haben sich während der Gesprächstherapie ein Jahr lang einmal pro Woche gesehen. Vor ein paar Wochen haben sie diese Treffen wieder aufgenommen. Paula vertraut Frau Hämmerle. 100 Prozent. „Sie ist zwar manchmal ein bisschen arg anthroposophisch“, hat Paula einmal gesagt, „zündet vielleicht ein paar Kerzen zu viel an. Aber sie ist genauso, wie eine Frau in meiner Situation es sich nur wünschen kann …“. Ich selbst habe manchmal ein paar Worte mit Frau Hämmerle gewechselt. Morgens auf dem Weg in die Stadt. Sie nahm auch den Zug um 8:04 Uhr. Und sie kennt meine Schwester.

Jetzt ruft Frau Hämmerle an, weil sie Paula berichten will, dass sie einerseits noch etwas länger krankgeschrieben sei: „Ich muss noch ein paar Untersuchungen machen lassen.“ Andererseits, dass sie eine Kollegin gefunden hätte, die Sprechstunden für Paula frei hat: „Ich habe der Kollegin Paulas Akte schon zugeschickt“, sagt sie, „das ist sicher eine sehr, sehr gute Lösung für ihre Frau.“ Sie nennt mir den Namen, Frau Binninger, gibt mir eine Telefonnummer durch. Und: „Ihre Frau kann mich gerne nochmal anrufen.“ Ich versichere ihr, dass ich Paula selbstverständlich von diesem Telefonat berichten werde. Das tue ich auch. Paula freut sich, dass Frau Hämmerle angerufen hat. Aber sie ist geknickt, dass sie noch eine Zeitlang ausfällt.

Heute haben wir wieder Tanzzirkel. Das zweite Mal, nachdem Paula vor zwei Wochen aus der stationären Therapie zurückgekommen ist. Ich beeile mich, damit ich rechtzeitig (oder pünktlich) zuhause bin. Das schaffe ich. Und ich freue mich auf den Tanzabend. Letzte Woche hat alles super geklappt, ich bin voll motiviert. Ich lächle Paula an, als sie die Treppe herunterkommt. Paula lächelt nicht. Sie starrt auf den Boden. Sie begrüßt mich nicht. Aber ihr Körper spricht zu mir: „Desaster“. Paulas Stimme ist so leise, dass ich sie kaum höre.

Frau Hämmerle ist vor drei Tagen gestorben.

Wir gehen trotzdem zum Tanzzirkel. Paula hat auf der Ablenkung bestanden. Das Tanzen klappt wieder bestens. Aber Paula spricht kein Wort. Kein einziges.

„The Show must go on! Yeah! Inside my heart is breaking.”