Wir sind gerade aus dem Urlaub gekommen. Die Post der
letzten Woche stapelt sich vor der Wohnungstür. Die Nachbarn haben sie
gesammelt. Paula öffnet die Tür, schiebt den Stapel beiseite. Damit ich mit den
Reisetaschen rein kann. Die trage ich gleich nach oben. Die schmutzige Wäsche kommt
direkt in den Wäschekorb. Als ich wieder nach unten komme, hat Paula die Post
schon sortiert. Die Jahresabrechnung der Stadtwerke liegt obenauf. „Das mache
ich jetzt nicht auf“, sagt Paula, „ich will mir nicht gleich die Laune
verderben.“ Ich sage nur knapp „jow“, denn im letzten Jahr mussten wir 700 Euro
nachzahlen.
Beim Abendessen lassen wir den Urlaub Revue passieren. Wie
immer fragen wir die Kinder nach ihrem schönsten Urlaubserlebnis.
Erwartungsgemäß ist das der Besuch bei der Tante und den Cousins selbst. Aber
auch der Zoo und das Panorama von Yadegar Asisi kommen gut weg. Es ist ein
harmonischer Abend. Ich spiele mit den Kindern noch eine Runde Trivial Pursuit.
Paula kruschtelt in der Wohnung herum. Ich achte nicht weiter darauf.
„Paul“. Ich reagiere nicht. Vielleicht weil ich gerade die
Frage beantworten soll, in welchem Land der Tag des 'Zahnziehers' gefeiert
wird. „Paul“. Da ist es wieder. Dieses verhasst überspitzt betonte „u“. Es wird
ernst. Oder unangenehm. Ich reagiere: „Was ist?“ „Kommst du mal bitte!“ Auch an
diesem Ruf von Paula behagt mir die akzentuierte Betonung nicht. Ich werfe den
Kindern ein Augenrollen zu und gehe ins Arbeitszimmer. Dort angekommen,
schließe ich die Türe. Paulas Tonfall klingt nach Stadtwerken.
Paula sitzt am Schreibtisch. Sie hat ihr Gesicht in die
Hände gestützt. Sie sieht mich an. Ihre Augen sind rötlich unterlaufen. Sie hat
geweint. In aller Stille. Im Arbeitszimmer. Keine zwei Meter vom Trivial
Pursuit entfernt. Ihre Laune ist buchstäblich augenscheinlich verdorben. Meine
nun auch. Der Brief der Stadtwerke liegt ungeöffnet vor ihr auf dem Poststapel.
Ein anderer Brief liegt vor ihr. Er sieht nicht weniger förmlich aus, als die
Stromabrechnung. Allerdings ohne Tabelle. „Sie haben das genehmigt“, sagt
Paula. Ich frage „Was?“ „Die Therapie“, sagt Paula. Wir schweigen.
Wir schweigen.
Wir schweigen.
„Was jetzt genau?“, frage ich nach einer Weile. „Die haben
die Therapie genehmigt“, presst Paula knapp vor den wiederkehrenden Tränen
heraus, „die Rentenversicherung hat mir eine stationäre Therapie genehmigt. Für
fünf Wochen. Fünf Wochen. Paul.“ Ich freue mich. Wir lavieren seit fast einen
halben Jahr an diesem Thema herum: Braucht Paula einen Klinikaufenthalt? Will
sie das? Wie können wir das mit zwei schulpflichtigen Kindern organisieren?
Wann? Zahlt die Krankenkasse eine Dorfhelferin? Bei wem stellt man wie, welchen
Antrag? Welcher Psychiater kann den Antrag abzeichnen? Welche Klinik kommt in
Frage? Wir hatten das alles geklärt. Und den Antrag gestellt. Die Psychiaterin
hat für ihre Unterschrift sechs Wochen gebraucht. Wir sind währenddessen in den
Alltag zurückgeschlittert, haben mit Paulas Depression gelebt. Manchmal
schlecht, manchmal sehr schlecht. Manchmal gut. Selten sehr gut. Das war okay.
Für mich. Bis zu einem gewissen Grad. Jetzt ist die Genehmigung da. Was nun?
„Die Psychiaterin hat gesagt, solche Anträge würden erst
einmal abgelehnt“, klagt Paula. „Und dann …“, Paulas Stimme ist jetzt ganz
dünn, „schau mal, wo die mich hinschicken wollen: Die Postleitzahl fängt mit
einer '3' an. Das ist ja 500 Kilometer weg von hier.“ Mein Hirn wabert in
seiner Karkasse hin und her, meine Knie werden weich. „Wieso das denn?“,
schwappt aus meinem Mund. Wie soll Paula das wissen! Die Frage ist völlig
blöde; meine Ratlosigkeit kommt vielleicht gerade deshalb zum Ausdruck. „Die
sechs Stunden Fahrt stecken mir in den Knochen“, lüge ich, „ lass uns das
morgen besprechen!“
Ich muss mich sammeln. Paula auch: Sie wälzt sich die ganze Nacht hin und her.
Von den Stadtwerken bekommen wir übrigens 230 Euro zurück.
Den Tag des Zahnziehers feiert man in Brasilien.
Paula soll deshalb sooo weit weg damit sie Weit weg von allem ist, Ihrem normalem Umfeld, der Arbeit,den Kindern und Dir. Damit soll verhindert werden das sie Tag täglich Besuch bekommt, und das sie zu Sich kommen kann.
AntwortenLöschenHoffe die Reha tut Ihr gut.
Die Dorffrau wie du sie nennst,denke das ist eine Haushaltshilfe, bekommt man wenn min. 1 Kind unter 12 ist, genauso wie eine Tagesbetreuung.
Du kannst dich aber auch für die Zeit Krankschreiben lassen und bekommst dann Krankengeld von der Krankenkasse, das ist auch eine Möglichkeit. Weiter kann auch eine Person der Ihr Vertraut mit Kinder und Haushalt beauftragt werden, z.B. Eltern, Schwiegereltern Geschwister o.ä.
Lass deine Frau diese Reha machen ohne das sie das Gefühl hat zuhause zu Fehlen. Erzähl ihr nur im Notfall von Problemen zuhause.
Alles Gute
Ramona
Lieber Paul, in den letzten Tagen habe ich mit vielen Menschen gesprochen, die einen stationären Aufenthalt mitgemacht haben. ALLE diese Leute haben mir eine sehr positive Resonanz dazu gegeben, sprachen sogar davon, nach dem Klinik-Aufenthalt "geheilt" gewesen zu sein. Manch einer hat es dann aber leider versäumt, weiter eine ambulante Therapie zu machen und sich dadurch den neuen Gesundheitsstand ein Stück weit verspielt. Ich selbst bin einer stationären Therapie noch immer ausgewichen. Aus Freiheitsliebe. Aus Individualismusdrang. Aus banaler Angst sicherlich auch. Und es sammelt sich ja auch so viel an, wenn man weg ist... trotzdem: die Erfahrungsberichte, die ich gehört habe, machen Mut. Wirklich. In einem viel viel kürzeren Zeitraum kann das aufgearbeitet werden, was in der ambulanten Therapie vielleicht Monate oder Jahre braucht! Mit Glück wird deiner Frau und euch allen da sehr geholfen, wenn ihr euch drauf einlasst. Auch wenn es bestimmt nicht leicht wird. Egal auf welcher Seite der Kliniktür. Viel Erfolg wünsche ich euch und PS. auch im Bereich der 3er-Postleitzahlen kann es ganz schön sein ;)
AntwortenLöschenLieber Paul, ich bin erst gerade auf deinen Blog gestoßen (und fange rückwärts an zu lesen) - Alles Gute für den Aufenthalt deiner Frau! - Ich wollte nur sagen, dass ich den Blogpost - unabhängig vom Inhalt - verdammt gut geschrieben finde: pointiert, Worte an richtigen Stellen, beeindruckend. Und ich finde es schön, dass du dir soviel Zeit nimmst dafür, alles zu reflektieren und zu versuchen, damit umzugehen.
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