Samstag, 29. Juni 2013

Befindlichkeiten

Von Mae West – Hollywood-Diva und Femme Fatale der 1930er Jahre – wird diese Geschichte kolportiert: Nach einem Auftritt folgen ihr einhundert junge Männer bis vor ihre Villa. Oben auf der Eingangstreppe wendet sie sich an die „hungrige Meute“: „Hey Guys, ich habe Migräne. Leider muss einer von euch nach Hause gehen."

Entledigte sich La West angeblich mit dieser stereotypischen Begründung eines Liebhabers von einhundert, hat Paula in 99 von einhundert Fällen ähnliche Erklärungen parat, ein Schäferstündchen abzuwenden. Und das meist schon frühzeitig präventiv. So empfinde ich das. Leider allzu oft. Die Palette reicht von eben Migräne oder Kopfweh, über das Iliosakralgelenk nach dem Joggen oder verkrampfte Waden, bis zu Vitaminmangel oder schlimmstenfalls Flatulenz. Dieses Feuer im ehelichen Krisenherd glimmt ständig. Paula und ich, wir wissen beide um das unausgewogene Wollen-/Könnenverhältnis. Das schafft Raum für fehlgeleitete Interpretationen des Verhaltens des jeweils anderen. Und erhöht das Konfliktrisiko.

Es ist bereits 3:30 Uhr. Mitten in der Nacht. Paula und ich kommen nach Hause. Mit Freunden und Kollegen haben wir Party gemacht. Ordentlich Party. Die Knochen tun (vermutlich uns beiden) weh, mir auch noch der Schädel. Trotzdem habe ich mächtig Lust auf Paula. Wir packen uns ins Bett, unter eine Decke, meine Hände dringen in zwar bekanntes, jedoch immer wieder reizvolles Körperterrain vor. Die Lider liegen schwer auf den Augäpfeln, die horizontale Lage entspannt mich. Sehr sogar. Zu sehr. Ganz. Ich schlafe ein. 

Irgendwann fordern Alkoholgenuss und die ausgleichende Aufnahme von Flüssigkeit in Form von Apfelschorle Tribut. Ich schleiche zur Toilette, Paula wird wach, Paula geht zur Toilette. Danach gehen meine Hände wieder auf Entdeckungstour. Bei mir löst die entspannende Horizontale nun eine Schwellung aus. Paula schläft ein. 

Jetzt ist es kurz vor 9:00 Uhr. Durch das offene Fenster kommt sommerliches Licht herein. Und der rurale Pollenmix. Paula und ich sind wach. Paula schnieft. Unsere Lust ist geblieben. Wir kommen wieder unter einer Decke zusammen, unsere Forscherhände unter unserer Wäsche. Paula hat eine davon in meinem Slip. Der horizontalbedingte Entspannungseffekt doppelt sich. Plötzlich lässt Paula von mir ab. Sie richtet sich auf, zieht den Pollengeschwängerten Nasenschleim hörbar nach oben. Sie fängt an, wie wild auf und in ihrem Nachttisch herumzuwühlen. Sie sucht etwas. Sie findet es nicht. Sie rotzt weiter. Es vergehen ein paar Minuten, die mir wie eine halbe Ewigkeit vorkommen. Paula sucht jetzt unter dem Bett. Dumpf dringt ihr ungehaltenes Gebrabbel zu mir: „Wo ist diese Packung Tempos? Hat die jemand weg? Mann, Mist.“ Und wieder fährt Schleim Nasenaufzug. Sie macht Anstalten, aufzustehen, um ins Bad zu gehen. Ich drehe mich um. Zur anderen Seite. Paula kommt wieder, legt sich hinter mich und ihre Hand auf meine Hüfte. Dort regt sich nichts mehr. „Bist du jetzt sauer?“, fragt Paula. Ich hole tief Luft, sehr tief: „Schon ziemlich abtörnend so was“.

Wir streiten uns fast eine Stunde lang. Zunächst über „so was“, dann über Erwartungen und schließlich über die Unfähigkeit, den jeweils anderen auch nur ansatzweise verstehen, respektieren oder akzeptieren zu können.

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