Freitag, 8. März 2013

Geht Paul alleine aus? (Auf Wunsch meiner Leser)

Viertes Semester, Praktikum bei Becker Sperling und Partner. Das ist eine Werbeagentur. Klein, fein, gerade gegründet. Ich kenne Herrn Sperling von einem früheren Praktikum. Wir organisieren den Tag der offenen Tür eines großen Autohändlers. Ich darf fast alles selber machen. Nun ist er da, der große Tag, die Bude ist brechend voll. Die Leute sind begeistert. Herr Hörst, der Autohändler, ist begeistert. Er lädt uns zu einem Umtrunk nach der Veranstaltung ein. Das gesamte Personal ist da. Auch Carine. Zu diesem Zeitpunkt weiß ich noch nicht, dass sie Carine heißt. Sie wird mir als „unsere Juniorverkäuferin, Frau Haske“ vorgestellt. Wow, eine Frau als Autoverkäuferin. Respekt. Eine so junge Frau. Drei Jahre jünger als ich. Das weiß ich zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht. Und so cool. Und so hübsch. Und so nett. Und, und, und … ach herrje. Ich verliebe mich in sie. Noch bevor der erste Toast auf diesen Tag der offenen Tür im Autohaus Hörst ausgebracht ist.

Ich verliebe mich über beide Ohren! Am Montag rufe ich im Autohaus an. Ich frage direkt nach Frau Haske. Sie ist etwas überrascht, aber sie sagt „ja“ zu meiner Einladung zum Bier. Wir treffen uns. Wir plaudern ein bisschen aus unseren bisherigen Leben. Ich kriege nicht so viel mit. Ich schmachte sie an und versuche, nicht vom Barhocker zu kippen. Immerhin: Ich nenne sie jetzt Carine. Und ich weiß, dass sie drei Jahre jünger ist als ich. Am nächsten Tag mache ich mit meiner derzeitigen Freundin Schluss. Ein Tränendrama. Carine sagt noch ein paar Mal „ja“ zu meinen Einladungen. Eines Abends erzählt sie mir von ihrem Freund. Das einschießende Adrenalin betäubt mich. Trotzdem lade ich sie nochmals ein. Zu einem martialischen Aktionstheater. Flammen, Blut und Lärm. Carine bietet an, mich danach nach Hause fahren. Sie hat einen Firmenwagen. Als coole Juniorautoverkäuferin gehört sich das. Ich sage „ja“. Auf der Fahrt frage ich sie, warum sie sich mit mir trifft. Sie weiß es nicht. Ich fühle mich ausgenutzt. Gekränkt. Ich flippe aus. Ich schreie sie an. Ich vergesse mich. Auf halber Strecke soll sie mich rauslassen. Ich knalle die Autotür so heftig zu, dass sie wieder aufspringt. Nach dem zweiten Türschließversuch fährt Carine davon. Das ist 23 Jahre her. Ich habe sie nie wieder gesehen.

Schulfest. Es ist eine private Schule. Klein, überschaubar. Viele Eltern kennen sich. Die meisten haben ihre Kinder auf Empfehlung anderer Eltern hier eingeschult. Paula hat keine Zeit, ich gehe mit den Kindern alleine hin. Ich sitze mit Freunden zusammen. Eine Bekannte von ihnen kommt in dem Moment dazu, als ich aufstehe, um mir einen Kuchen zu holen. Am Kuchenstand höre ich von hinten eine Stimme: „Kennen wir uns nicht irgendwie von früher?“ Ich denke: „Scheiß Anmache“ und drehe mich um. Neugier siegt. Die Stimme gehört der Bekannten unserer Freunde. Es ist … Carine. Das einschießende Adrenalin betäubt mich. Ich sage: „Ja, ja klar.“ Sie sagt: „Weißt du noch, wie ich heiße?“ Was für eine Frage! Hallo? „Carine Haske“, sage ich, „vielleicht heißt du kraft Heirat jetzt anders, aber das weiß ich natürlich nicht.“ Ihr immer noch hübsches Gesicht formt eine anerkennende Miene: „Horum, ich heiße jetzt Horum“. Diesen Namen fand ich schon seltsam, als sie mir vor 23 Jahren von ihrem Freund erzählt hatte. Wir plaudern ein bisschen aus unseren Leben. Und wir verabreden uns. Einmal. Zum Kaffee in der Mittagspause. Ein zweites Mal. Beim dritten Mal treffen wir uns in der renovierten wiedereröffneten Churchill-Bar. Abends. Sie erzählt mir von ihrem Mann. Sie haben Knatsch. Er fühle sich nicht mehr geliebt. Später entschuldige ich mich für meinen theatralischen Abgang vor 23 Jahren.

Am Donnerstag gibt es ein Konzert von Kakkmaddafakka (Die heißen wirklich so.) Ich habe Lust hinzugehen. Ich habe ein Faible für junge Indiebands. Und ich mag melodiösen Gesang. Weil diese Leidenschaft kaum einer meiner Freunde teilt, lade ich Carine ein. Sie sagt „ja“. Am Mittwoch haben Paula und ich Streit. Es geht mal wieder um Thema Nummer Eins. Sie fühlt sich bedrängt, ich mich – ganz buchstäblich – unbefriedigt. Ein Wort gibt das andere, wir kommen von Höckscken auf Stöckscken. Es eskaliert und prompt sind wir mitten in der Nacht lautstark in eine Grundsatzdiskussion über Beziehung, Ehe, Sex und Depression verwickelt. Ich wünsche mir ein Beißholz. Irgendwann gebe ich einfach keine Antwort mehr. Es ist nur noch Schweigen. Im Grunde bis Freitagfrüh.

Carines bestickte Cowboystiefel dünken mir etwas übertrieben. Im Publikum stehend sehe ich sie aber nicht. Nach dem dritten Bier aus der Flasche sind mir die Dinger dann egal. Carine zieht ihre Jacke aus. Ich stehe etwas versetzt hinter ihr. Ich sehe sie an. Nein – ich scanne sie ab. Sie ist schlank. Das gefällt mir. Kleine Brüste sowieso. Ich hole mir noch ein Bier. Carine will keines mehr. Ich platziere mich genau da, wo ich vorher stand. Bei einer Gänsehautballade lehnt sich Carine ganz leicht nach hinten. Bilde ich mir zumindest ein. Unsere Schultern touchieren sich. Das bilde ich mir nicht ein. Ich habe eine unbändige Lust, sie zu berühren. Eine Hand habe ich an der Bierflasche. Die andere in der Hosentasche. Ich knülle den Futterstoff zusammen, knete ihn. Ich ziehe das Bier in Rekordzeit aus der Flasche.

Nach dem Konzert gehen wir … noch ein Bier trinken. Ich sitze ihr gegenüber. Wir sehen uns an. Ich frage: „Alles klar bei euch zuhause?“ Sie erzählt mir, dass ihr Mann ans Ausziehen denke. Aber zunächst gingen sie mal in Urlaub. Ob sie sich und ihren Mann, sich und ihre Kinder oder alle zusammen meint, bleibt offen. „Und bei euch?“ kommt es messerscharf retour. „Och, naja“, sage ich, „man hat halt Höhen und Tiefen.“ Nachdem ich die fünfte Flasche Bier geleert habe, bietet Carine mir an, mich zum Bus zu fahren. Ich sage „ja“. Am Bahnhof verabschieden wir uns. Ich lasse die Autotür leise ins Schloss fallen. Carine fährt davon.

Wieder zuhause liege ich mit offenen Augen neben Paula im Bett. Sie schläft. Atmet ruhig. Ich lege meine Hand auf ihren Unterarm, der unter der Decke hervorlugt. Ich denke: „Hey Alter, was machst du?“ Das ist vier Wochen her.

Ich habe Carine seither nicht wiedergesehen.


1 Kommentar:

  1. Ich finde mich in eher in Paulas Situation wieder, und die Angst überkam mich beim Lesen, gefolgt von leichter Übelkeit :-/
    Angst, dass es "meinem Paul" genauso geht...

    AntwortenLöschen