Freitag, 8. März 2013

Entlastung kostet nur einen BH

Wie eine Trauernde vergräbt Paula ihr Gesicht in beiden Handflächen. Die Ellenbogen auf den Esstisch gestützt. Sie sitzt nicht, sie kauert. Ihr Körper spricht klar und deutlich zu mir: „Lass’ mich in Ruhe! Sprich mich nicht an! Fass mich nicht an!“ Ich lasse sie in Ruhe. Ich spreche sie nicht an. Ich fasse sie nicht an. Ich setze mich aufs Sofa. Ich blättere in der Fernsehzeitschrift. Den Tipp-des-Tages-Film haben wir schon dreimal gesehen. Wäre ohnehin erst um 22:45 Uhr zu Ende – kranke 40 Minuten Werbung! Oder 40 Minuten kranke Werbung – wie auch immer. Ach, am liebsten sähe ich mir die Tierdokumentation im Dritten an. Das fordert nicht so viel Konzentration und die Kinder kämen früher ins Bett. Ich wende mich Paula zu, die in der Trauerstellung ausharrt. Ich sondere ein „Hmm?“ ab. Fragend. Abwartend.

Überlastung ist das Stichwort. Mal wieder. Der Schichtdienst, der Job unter Personalmangel im Team, die Überstunden, die verständnislose Pflegedienstleitung, die Kürzungen im Klinikhaushalt, der Freiberuf, die Fahrerei zu den Privatpatienten, die Kinder, deren pubertäres Gehabe, das Gehassel um die Hausaufgaben, die Gespräche mit den Lehrern, die Sitzungen mit dem Therapeuten unseres ADS-geplagten Ältesten, der Chor, der Tanzzirkel, die Wäsche, das Putzen, das Einkaufen, das Kochen … Jetzt muss auch noch das Auto für zwei Tage in die Werkstatt! Der Lenkwinkelsensor ist kaputt. Aha, interessant! Bis eben wusste ich nicht mal, dass es so etwas gibt. Zu guter Letzt: „… und überhaupt!“ Oh, ja: „… und überhaupt!“ Was soll ich sagen? Soll ich etwas sagen? Kann ich dazu etwas sagen? Vor allem etwas, was ich in nicht schon gefühlte 6.570 Mal (= 18 gemeinsame Jahre, einen Kommentar pro Tag zu diesem Thema) gesagt hätte?

Es geht um die Kumulation von Verantwortlichkeiten, meint Paula. Ich meine, es geht ums Müssen. Und ums Nichtmüssen. Vieles muss tatsächlich. Zuallererst selbstverständlich die Arbeit; der Schichtdienst gehört (leider) dazu. Ohne die Privatpatienten müssten wir auf Vieles verzichten. Sicher. Vieles kann. Weil es organisatorisch leichter ist. Ich sitze den ganzen (Werk)tag im Büro. Termine bei Lehrern, Therapeuten und Autowerkstätten kann Paula leichter wahrnehmen. Sie hat eine 50-%-Stelle. Der Rest? Der Rest muss nicht. Genauer gesagt: Paula muss nicht. Besser gesagt: Sie müsste nicht.

Wäsche machen kann ich bestens. Auch wenn ich mal einen BH bei 60°C gewaschen und damit ruiniert habe. Nobody is perfect. Was aber, liebe Freunde, ist schon ein BH zugunsten der Entlastung von Paula? (Um weiteren Fragen vorzubeugen: Bügeln kann ich perfekt. Hat mir meine Mutter beigebracht, nachdem ich ihr als Jugendlicher verboten hatte, meine Unterwäsche (!) zu bügeln.) Putzen? Hasse ich. Es nervt, einen Teil des Wochenendes für Reinigungsarbeiten zu verschwenden. Kann ich aber. Kochen sowieso. Nicht nur meine Tapas sind in unseren Freundeskreisen legendär. Farfalle mit Pesto aus dem Glas schaffen sogar die Kinder. Paula weiß das. Alles. Und trotzdem macht sie alles selbst. Immer. Ich sondere wieder ein „Hmm“ ab. Bestätigend. Bestimmt.

Auf „Das Vierte“ gibt’s den Westernklassiker „Rio Bravo“ mit John Wayne. Habe ich schon dreimal gesehen. Fordert nicht mehr Konzentration als die Tierdokumentation. Ich frage Paula, ob ich Morgen fürs Abendessen einkaufen soll.

Ohne das Gesicht aus den Händen zu nehmen antwortet Paula: „Nein, geht schon.“


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