Sonntag, 10. Februar 2013

Solostimme

Paula und ich haben vor knapp 30 Jahren Abitur gemacht. An derselben Schule, in derselben Jahrgangsstufe. Sogar in denselben Leistungsfächern. Der musische Zweig dort war der einzige im Landkreis; ist es auch heute noch. Leistungsfach Musik – man stelle sich das vor. So gibt es auch einen Mädchenchor. Der hat – es mag Ende der 1970er Jahre gewesen sein – eine Schallplatte aufgenommen. Auf der Rückseite des Covers gibt es ein Foto. Die meisten Mädchen darauf kenne ich. Schließlich habe ich inklusive einer „Ehrenrunde“ zehn Jahre an der Schule verbracht. Neben Paula steht Margareth auf dem Foto. Sie ist eine sehr gute Freundin aus – na klar – Jugendtagen. (Paula war das seinerzeit noch nicht. Sie war in der Klasse „C“, ich in der „B“. Undenkbar, mit einem Mädchen der anderen Klasse herumzuscharwenzeln.)

Margareth treffe ich nach einigen Jahren wieder. Leider bei der Trauerfeier für ihre verstorbene Mutter. Hier kommen viele Menschen zusammen, die von den alten Zeiten erzählen. Wie so oft kommt das Gespräch auf Paula und mich. Schließlich sind wir das einzige Ehepaar der Jahrgangsstufe. Die Konflikte „C“ gegen „B“ sind längst Geschichte. Margareth erinnert sich an den Mädchenchor. Paulas Stimme habe sie „immer als unangenehm schrill empfunden.“ Ich bin von der Trauerstimmung und dem Weißwein schon ziemlich neben der Spur. Ich drücke den unpassenden Spruch raus, dass Paulas Stimme in gewissen Situationen tatsächlich schrill klinge. „Das“, füge ich hinzu, „das ist dann aber überhaupt nicht unangenehm.“ Den vielsagenden Blick, den ich dabei aufsetze, würde Jack Nicholson zur Ehre gereichen. Trotz des Anlasses habe ich die Lacher auf meiner Seite und kann verschleiern, dass die Wahrheit doch ganz anders ist. Mittlerweile.

Paulas Stimme war in gewissen Situationen tatsächlich schrill. Einmal pochte der Nachbar mit dem klischeehaften Besenstiel von unten an die Decke. Es war zwei Uhr nachts. Das ist nie mehr passiert. Die späteren Wohnungen hatten dickere Wände, die Häuser waren freistehend, wir wurden einfach älter, Paula – bekanntermaßen – krank.

Eben sucht unser älteres Kind seine Sporthandschuhe, die Paula waschen wollte, es aber nicht geschafft hat, weil es ihr schlicht mies geht. „Mama, wo sind meine Handschuhe?“ Die Frage erwischt Paula auf dem falschen Fuß.

Ich bin ich der Küche, ca. zwölf Meter Luftlinie von Paula entfernt, eine Etage tiefer. Ich verstehe nicht wörtlich, was sie faucht, aber es tut mir in den Ohren weh. Dem Kind offenbar auch. Panisch, wirklich panisch stammelt es: „Schon gut, Mama, schon gut. Schon gut. Ich habe ja nur gefragt. Bitte Mama, Mama schrei‘ nicht so. Alles gut, ich nehm‘ die alten Handschuhe."

Morgen habe ich einen halben Tag Urlaub. Ich werde wohl mit den Kindern sprechen. Über Margareth. Und selbstverständlich über Paula.

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