Donnerstag, 31. Januar 2013

Bein ab

Mal wieder tobt Paula. Ich hätte ihr vorgeworfen, sie „verschanze“ sich hinter ihrer Depression. Und das sei – so wörtlich – „hundsgemein“. Meine Erinnerung an meine Formulierung ist eine andere. Aber das will ich hier und jetzt nicht zur Debatte stellen. Letztendlich handelt es sich mal wieder um Unterschiede der individuellen Wahrnehmung.

Paula poltert weiter. Wenn sie ein Bein ab hätte, würde ich das als Krankheit anerkennen. Da sei sie sich sicher. Ihre Depression würde ich als Psychokacke abtun. Ich sehe das anders. Selbstverständlich sehe ich das anders.

Da fällt mir Herr Meyer ein. Herr Meyer heißt – vorbehaltlich der Schreibweise – tatsächlich Herr Meyer. (Sonst verwende ich ja Pseudonyme.) Er ist der dusselige (Paar)therapeut, den ich gar nicht dusselig finde. (Siehe Post „Das Menetekel …“) Als die Diagnose Depression feststeht und ich so ganz langsam eine Ahnung davon bekomme, was auf mich – sorry: auf uns – zukommen wird, will ich mich (nicht uns!) beraten lassen. Auf die Schnelle kann ich keinen Spezialisten finden. Also mache ich einen Termin mit Herrn Meyer.

Mal abgesehen von seinem schaurigen schwäbischen Akzent (Gruß an Wolfgang Thierse!) ist der Mensch echt in Ordnung. Okay, nicht der Typ, mit dem ich mich auf ein Bier verabreden würde. Aber als Berater recht brauchbar. Wie bei vielen Angehörigen von Depressionspatienten kommen in dem Gespräch die Fragen auf, wo ich denn als Partner bliebe, wie hoch denn der Preis sei, den ich zahle müsse, wenn Paula und ich den Weg durch die Depression gemeinsam gehen (woll(t)en). Und wie Partnerschaft möglich sei. Oder auch, ob Partnerschaft noch möglich sei.

Da zaubert Herr Meyer diesen Vergleichshasen aus dem Hut: „Stell‘ dir vor, deine Frau verlöre ein Bein bei einem Unfall. Das hätte wahnsinnig viele Auswirkungen auf eure Beziehung so wie sie jetzt ist.“ Augenscheinlich hat er Recht: Wir wohnen über drei Etagen, wir haben ein Auto mit Schaltgetriebe, wir gehen oft tanzen (Chachacha ist unser Favorit.); Paula trainiert gerade für den Halbmarathon. (Nicht zuletzt) deshalb hat sie muskulöse schlanke Beine. Sie ist überhaupt sehr schlank und muskulös. Das ist das, was ich an ihr am meisten sexy finde. Vor allem den definierten Bauch … das aber gehört jetzt nicht unbedingt hierher …

„Du und Paula“, fährt Herr Meyer fort, „würdet bald an einen Punkt kommen, an dem ihr euch fragt, ob ihr eure Beziehung unter dieser neuen Voraussetzung auch neu definieren könnt und wollt. Ihr seid eure Beziehung unter anderen Voraussetzungen eingegangen. Diese Frage ist also ebenso normal wie legitim. Ebenso normal und legitim ist es u. U. dann auch, diese Beziehung  zu beenden.“ „Uff, harter Tobak“, schießt es mir durch den Kopf. Aber er hat – mal wieder – Recht.

Zuhause versuche ich diese Definitionsfrage zu stellen. Gelegentlich. Ich frage nach Perspektiven und Kompromissen. Nach Möglichkeiten oder Bereitschaft, zu reden. Aber leider versteht Paula die Fragen eben so, wie sie sie versteht. Oder verstehen kann.

Manchmal denke ich, es wäre besser, sie hätte ein Bein ab.

Dienstag, 29. Januar 2013

Das Menetekel

Es geht um die Wurst.

„Klar, mein Lieber“, werden viele sagen, „das ist ein Allgemeinplatz, wenn du über viele Jahre mit einer depressiven Partnerin zusammenlebst. Das solltest du selbst am besten wissen, Paul!“ „Leute, Leute“, sage ich grinsend, „selbstverständlich weiß ich das selbst am besten. Allerdings: Ich meine das hier und jetzt ganz wörtlich. Es geht um die Wurst!“

Die Wurst nämlich, die ich gerne zum Frühstück esse. Die habe ich eingekauft. Blöd nur, dass ich, während ich beim Metzger an der Theke stand, schon ein bisschen Hunger hatte. Ich hatte den Morgen ziemlich vertrödelt. So ungefähr zweieinhalb Stunden lang. Es war ja auch nur „ein bisschen Hunger“. Folglich habe ich auch nur ein bisschen mehr Wurst gekauft.

Ich sage nicht „zu viel Wurst“. Denn würden – so rein theoretisch – die (ausgeprägt carnivoren und pubertär bedingt verfressenen) Kinder auch nur ein einziges Mal Wurst zum Frühstück essen, wäre die ratz fatz weg. Aber so ist es eben nicht. Sie verputzen lieber (ein gefühltes Pfund) Müsli. Inkl. einem Liter Milch.

Nun pickt Paula mit hochgezogenen Augenbrauen und mit spitzen Fingern in der Wurstdose (Achtung product placement: Tupperware). Sie verrät mir, dass Frischwurst schneller verdirbt als abgepackte. („Ach Schatz, was ein Geheimnis“, denke ich, „die frische schmeckt aber besser.“) Von der ‚Hausmacher Leberwurst, fein geräuchert‘ würde sie eh‘ nichts essen. („Ich hatte“, denke ich, „Leberwurst eigentlich nur für die Kids und mich geplant. Du isst doch nie welche.“) Im Radio dudelt „Holiday“ von Madonna. Wie so ziemlich jeden Morgen zwischen halb sieben und halb acht irgendein Song von Madonna dudelt.

Die nächste Radiomeldung verstehe ich nicht ganz. Das Gekruschtel in der Tupperdose ist ziemlich laut. Wegen der Folienbeschichtung des Wursteinpackpapiers, das sie in der Metzgerei verwenden. Aber die Aufreißpackungen, in die länger als Frischwurst haltbare Wurst eingepackt wird, sind auch nicht leiser.

Ich hole hörbar tief Luft. Hörbar trotz des Gekruschtels und trotz Radio. Paula hört es natürlich auch. Ihr Hinweis, sie habe keine Lust ständig (mit drei „ä“ gesprochen) Lebensmittel wegzuwerfen, klingt in meinem Kopf schrill. Ich bin ein Morgenmuffel. Deshalb doppelt sich der Effekt. Und deshalb sage ich – mal wieder – nichts. Reiner Selbstschutz, das.

Unter der Dusche formuliere ich schon mal einen Teil meines nächsten Blog Posts:

Irgendwann ist Schluss. Schluss mit Rücksichtnahme auf die Depression. Schluss mit Ertragen-Wollen und auch mit Ertragen-Können (oder in umgekehrter Reihenfolge). Schluss mit Diskussionen über im Wohnzimmer liegengelassene Pullover, aus dem Mülleimer hängende Zahnseidenstücke oder eben (Wurst)einkäufe. Kurzum: Irgendwann muss einem das Hemd näher sein als die Jacke. Will sagen: Ab einem gewissen Punkt muss man(n) sich selbst schützen. Oder von mir aus "retten". So hart das klingt: Um die Zahl der "Verluste" zu verringern, muss man(n) den eigenen Arsch retten. Es gibt eine Welt jenseits der Depression!

Hmm, das könnte ich eigentlich auch mal an die Wand im Schlafzimmer schreiben. Das werde ich aber nicht machen. Schließlich ging es ja nur um die Wurst.

Montag, 28. Januar 2013

Der Sinn fürs Alleinsein (eine Glosse)


Zum Geburtstag bekommt jeder Mitarbeiter der Firma eine Glückwunschkarte. Das ist natürlich nichts Besonderes. Das ist (hoffentlich) überall das Gleiche. Bei uns aber ist es immer die gleiche Karte. Im Innenteil können die Kollegen ein paar nette Worte an den Jubilar richten. Viele unterschreiben nur, andere schaffen noch ein „Alles Gute!“. Ach, naja, finde ich, ein bisschen respektvoller könnte es schon sein. Ich durchstöbere deshalb stets die einschlägigen virtuellen Zitatbörsen – auf der Suche nach etwas Passendem. Dabei stoße ich doch eben auf diesen markanten Spruch:


„Wer großen Wert auf Pünktlichkeit legt, muss Sinn für das Alleinsein haben.“


Ja, ich werd‘ nicht mehr! Das ist es: Mir fehlt einfach der Sinn fürs Alleinsein! Wie schön, dass ich nun endlich weiß, wie es um mich bestellt ist. Das hätte mir dieser dusselige Therapeut (den ich gar nicht dusselig finde) bei der Paarberatung aber auch schon mal früher sagen können. Mann, oh, Mann.

Aber nein, stattdessen lässt er Paula und mich bei jeder Gelegenheit wieder und wieder und wieder über dieses Thema streiten. Über das Thema Pünktlichkeit.

Ja, ich lege großen Wert darauf. Schon immer. Schon als Jugendlicher war ich ‚pissed‘ (=neuhochdeutsch für ‚stinksauer‘), wenn meine Kumpels später kamen als vereinbart. (Unentschuldigtes) Späterkommen kann ich nur schwer aushalten. Es löst regelrecht körperliches Unwohlsein bei mir aus. Bis hin zu Magenkrämpfen. Und damit zu schlechter Laune, die das anstehende Treffen mitnichten beflügelt. Jeder, der mich kennt, weiß das. Oder jede. Natürlich auch Paula. Sie weiß es am besten. Mit niemandem hatte ich je mehr Verabredungen als mit ihr.

Es kommt mir irgendwie vor, wie die Glückwünsche auf den Geburtstagskarten: Ein bisschen respektvoller könnte es schon sein.

Epilog: Wenn es mal wieder später wird, gönne ich mir heute meist ein Schnäpschen. Das hilft gegen die Magenkrämpfe. Und gegen die schlechte Laune. (Außerdem schmeckt es mir!) Damit, dass ich mit dem Alter (außerdem) toleranter werde, hatte der Paartherapeut Recht. Das aber – mir sitzt der Schalk im Nacken – sage ich ihm nicht.

Sonntag, 27. Januar 2013

Auf Schatten folgt Licht


In dem Film „My first name is Maceo“ sprechen (eben) Maceo Parker, Fred Wesley und Pee Wee Ellis (die ehemaligen JB Horns) darüber, wie es ist, wenn man seit Jahrzehnten zusammen Musik macht. Mit meinen Worten: Der eine erkennt das, was der andere gleich spielen wird, an der Stellung dessen Hemdknopfs.

Was hat das denn mit Paula und mir zu tun? Nun: Auch wir spielen schon so lange zusammen, dass wir spüren, was in dem jeweils anderen vorgeht. So wie neulich, als Paula sagte, ich säße auf dem Sofa wie ein „fleischgewordener Vorwurf“. Eigentlich eine schöne Metapher – wäre die Situation zu dem Zeitpunkt nicht so hässlich gewesen. Aber ich schweife ab.

Also: Ich merke gleich, dass ‚etwas ist‘, als Paula gestern duscht, während ich das Abendessen koche. Natürlich ist auch ein bisschen Hoffnung dabei. Denn die stirbt ja bekanntlich zuletzt. Als wir im Bett liegen, schaffe ich gerade eine halbe Seite, bevor mir die Augen zuzufallen drohen. Ich mache meine Nachttischlampe aus. Und Paula flugs die ihre. Das macht sie sonst nie. Ihre Hand kommt unter meine Decke. Dann unter mein T-Shirt. Sie kommt unter meine Decke. Meine Hand kommt unter ihr T-Shirt. … Hmmm … fühlt sich sehr schön an. Das Parfüm, das sie seit kurzer Zeit benutzt, macht mich wuschig. Ziemlich wuschig. Ich grabe mein Gesicht irgendwo in ihren Hals … 

DIE NUN FOLGENDEN AUSFÜHRUNGEN SIND FÜR JUGENDLICHE UNTER 18 JAHREN NICHT GEEIGNET UND DESHALB ZENSIERT

… Oh, what a night.

Krass! Vor wenigen Tagen hörte sich das noch so an: „Paul, du denkst, dass Sex irgendwas bringt. Für unsere Beziehung. Oder für mich. Das ist nicht so. Mir bringt das nichts, solange ich mit mir selbst nicht klar komme“. Darüber eine Diskussion anzufangen, hielt ich für aussichtslos. Zu oft gab’s darüber Streit. Erstens darüber, dass Männlein und Weiblein in Sachen Sex grundverschieden sind: Männer brauchen Sex zum Entspannen; Frauen müssen entspannt sein, um Sex zu haben. Davon bin ich überzeugt. Zweitens darüber, dass Depressionen den Sexualtrieb eben killen. 

Es wäre gelogen, wirklich zu behaupten, dass Sex (in diesem Fall; allgemeiner gefasst: Zärtlichkeit) nichts bringt für die aktuelle Situation. Halloooooo – es bringt doch wahnsinnig viel. Ich bin tatsächlich entspannter. Endorphine machen nun mal gute Laune. Und das – tschüss Vorurteil! – nicht nur zwischen dem Orgasmus des Mannes und dem Zeitpunkt, zu dem er einpennt. Sondern auch noch heute. Und ziemlich sicher auch Morgen, Übermorgen …

Endorphine heben auch die Toleranzschwelle gegenüber (depressionsbedingter) Launigkeit. Endorphine erhöhen auch die Lust. Das klingt zwar wieder kontraproduktiv, weil man ja Depressionsbetroffene (vor allem diesbezüglich) nicht unter Druck setzen soll. Aber Lust heißt ja nicht gleich – noch ein Filmzitat (wer weiß, aus welchem?) – den „Horizontalmambo“ zu tanzen. Sondern eben auch, einfach in den Arm zu nehmen. Und das fällt mir ohne Endorphine eben sehr schwer. Tue ich es, ohne wirklich Lust zu haben oder während ich mal wieder verunsichert bin, würde Paula das merken. Schließlich sind wir schon seit 18 Jahren eine Band.

Freitag, 25. Januar 2013

Gute alte Zeiten

Paula ist zur Nachtschicht gegangen. Die Kinder sind im Bett. Ich tue etwas, was ich schon seit Jahren nicht mehr getan habe: Ich rauche eine Zigarette. Auf dem Balkon. Ganz allein.

Wow, wie lange mag das das her sein, dass ich allein zuhause eine Zigarette geraucht habe? Jahre. Mindestens fünf. Wahrscheinlich mehr. Ich weiß es nicht mehr. Es ist saukalt. Der schwere Hochnebel des Tages hat sich auf die Häuser der Nachbarn gesenkt, auf die Wiesen und Felder. Der Dorfbach plätschert vor sich hin. Eine Zeitlang sind das Plätschern und die Kälte die einzigen Geräusche. Sofern Kälte überhaupt ein Geräusch machen kann – es ist diese typische Klangkulisse einer winterlichen Landschaft. Aus dem Dunst in der oberen Kurve Richtung Hügel lösen sich zwei Scheinwerfer. Sie kommen näher. Es ist der 22:40-Uhr-Bus. Auf dem Weg in die Stadt.

Ich nehme einen Zug aus der Zigarette. Denke daran, dass ich früher jeden Freitag auch um diese Zeit auf dem Weg in die Stadt war. Habe erst die Clique getroffen. In einem Café, in dem ein paar Leute aus der Clique gearbeitet haben. Wir haben uns immer dort getroffen. Ohne Verabredung. Und es waren immer alle da. Bis zur Sperrstunde haben wir geklönt, gelacht und getrunken. Vor und hinter der Theke. Wenn die hinter der Theke Feierabend hatten, sind wir weitergezogen. In „unseren“ Club. 

Acid Jazz war gerade extrem angesagt. Wir haben uns Platten von Mother Earth aus England bestellt, Jazzmatazz gehört bis zum Umfallen, und ab und zu Pizzicato Five. In dem Club wurde Acid Jazz gespielt. Wir haben uns die Seele wechselweise aus dem Leib geschrien oder getanzt. Dazu gab es verdächtig zu helles Bier aus Halbliterkrügen. Oder Ramazotti auf Eis mit Zitrone. (Buah, würde ich heute keine zwei mehr runterkriegen von.) Und Zigaretten gab es. Eine ganze Schachtel für jeden, wenn wir gut in Form waren. Manchmal wurde es schon hell, wenn wir aus dem Schuppen rauskamen. Nicht nur im Sommer.

Ich stelle mir vor, wie es sein würde, wenn ich heute alleine wohnen würde. Mehr als eine altersschiefe Ein-Zimmer-Bude würde ich mir nicht leisten können. So eine wie die damals von Tanja, bei der ich manchmal … hüstel, hüstel … übernachtet habe, bevor ich mit Paula zusammenkam. Da gab es ein Waschbecken an der Wand im Wohnraum und eine Dusche, die improvisationsbegabte Klempner der Küche abgetrotzt hatten. Die Toilette war auf dem Flur, eine Kirche genau gegenüber. 

Ich würde ein Bett haben, dessen Rost Europaletten wären. Wahrscheinlich vier. Denn ein Doppelbett müsste selbstverständlich sein. Wenn die Kinder mal über Nacht kämen. Wenn sie nicht kämen, würde ich Radio hören. (Vielleicht sogar auch, wenn sie da wären, wer weiß?) Dabei würde ich sehr wahrscheinlich einpennen. So wie damals, als ich noch alleine wohnte. Bevor Paula und ich zusammenzogen und später verheiratet waren. 

Meine Schallplattensammlung, die CDs und die Stereoanlage würde ich in und auf Holzweinkisten unterbringen. (Die Dinger werden heutzutage für teures Geld gehandelt, früher holte man sich die einfach vom Sperrmüll.) Kleiderständer statt Kleiderschrank wäre absolut okay. Eine Kommode vielleicht für die Unterwäsche, den Kleinkram und für Zeug, das Gäste vielleicht besser nicht sehen sollten.

Der nächste Zug aus der Zigarette ist schon sehr heiß; die Kippe fast fertig geraucht. Ich erinnere mich, wie Paula einmal im Club umgekippt ist. Die Rauchschwaden und die Ramazottis waren in der Nacht zu viel für sie. Trotzdem sind wir am nächsten Freitag wieder hin. Um zu „Hicky-Burr“ von Bill Cosby & Quincy Jones zu tanzen.

Während ich die Kippe in die leere Schachtel stecke, nach unten gehe und mir noch eine Flasche Sprudel hole, will mir nicht einfallen, wann Paula und ich zum letzten Mal in einem Club waren. Wann waren wir überhaupt das letzte Mal alleine aus?

Donnerstag, 24. Januar 2013

Das bisschen Haushalt

Paula ist sauer: „Mann, oh Mann Leute“, wettert sie, als sie das Krümmelchaos unter dem Esstisch sieht, „ich muss hier fast jeden Tag saugen!“ „Ach Mama“, kommentiert das ältere der beiden Kinder, „so schlimm ist das doch gar nicht“. In der nun folgenden Tirade von Paula kommen Vokabeln wie „Hausdienerin“, „Scheiß“, „Rücksichtslosigkeit“, oder „keine Lust mehr“ vor. Ich biete an, später zu saugen. Paula meint dann, es sei schon okay; sie würde das machen. Jetzt.

Mein Blick trifft den unseres Kindes, unsere Augenbrauen gehen leicht nach oben. Meine rechte, seine linke. Fragezeichen in unseren Gesichtern. Danach … Grummeln im meinem Bauch. Ich setze an, etwas zu sagen, doch ich sage nichts.

Am Samstag hat Paula Frühschicht. Wie jeden Samstag suche ich mir Rezepte für leckere (und idealerweise familienkompatible) Abendessen aus, die ich Lust habe, an diesem Wochenende zu kochen. Ich kaufe ein und wenn es nötig ist, mache ich ein, zwei, vielleicht drei Maschinen Wäsche. Als Paula nach Hause kommt, sitze ich auf dem Sofa und lese Zeitung. „Hat eigentlich schon jemand das Treppenhaus geputzt?“, fragt sie.

Ich gehe nach oben. Meinem alten Kumpel Christian wollte ich schon länger eine E-Mail schreiben.

Mittwoch, 23. Januar 2013

Zahlenspiele (oder der tägliche Zynismus)

Es gibt diesen Thekenkalauer über Raucher, die die nächste Zigarette damit rechtfertigen, dass im Einzelfall der Zusammenhang zwischen Rauchen und z. B. Lungenkrebs nicht nachweisbar sei. Selbst wenn die Statistik dafür spricht. Ach Gott, Statistik!

Ich habe (siehe den letzten Blog-Eintrag) die aktuelle Sex-Pause mit Paula mit Statistik in Verbindung gebracht: Sind 20 Tage ohne Sex ein langer Zeitraum – rein statistisch gesehen? Klare Antwort: Ja! Die Durex® Sexual Wellbeing Global Survey hat ergeben, dass Deutsche im Durchschnitt 117 Mal Sex haben pro Jahr. Auf 365 Tage gerechnet heißt das also, alle 3,1 Tage. Im letzten Jahr hatten Paula und ich 41 Mal Sex. Alle 8,9 Tage.

Noch ein paar interessante Zahlen:
  • 56 % der Deutschen können ihrem Partner ihre sexuellen Wünsche mitteilen.
    44 % können es also nicht. Das ist viel.
  • 40 % der Deutschen haben so oft Sex, wie sie wollen.
    Das ist wenig. Verdammt wenig.
  • 66 % der Deutschen denken, Sex sei wichtig für ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden.
    Ist das restliche Drittel krank und/oder mies drauf?
  • 69 % der Deutschen meinen, Sex sei wichtig für ein ausgefülltes Leben.
    Sag‘ ich jetzt nichts dazu.
  • 48 % derjenigen, die mit ihrem Partner zusammenleben, sind mit ihrem Sexleben zufrieden. Was ist mit der anderen Hälfte?
    Wäre spannend, den Zusammenhang mit der Trennungsrate herzustellen.
  • 45 % der Deutschen halten den praktizierten Liebesakt für nur mittelmäßig.
    Tja, wenn man das Kopfkino nur in die Tat umsetzen könnte!
  • 65 % fühlen sich in ihrem Sexualleben vom Partner respektiert.
    Was in einem Drittel Schlafgemächern abgeht, möchte ich mir nicht vorstellen.

Reden ist Silber, Schweigen ist Gold

Die letzten zehn Stunden haben die allerbesten Chancen, auf der Beschissenheitsskala ganz weit nach oben zu kommen.

Paula ist gut drauf. Die Stimmung ist gut. Auch zwischen uns. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass es heute endlich (der Unterton ist beabsichtigt) mal wieder klappen könnte. Mit „es“ meine ich – böse Zungen mögen sagen: „Natürlich!“ (mit langgezogenem „ü“) – Sex. Den hatten wir seit 20 Tagen nicht mehr. Und das letzte Mal war „Erfüllungsarbeit“. Schrecklich.

Trotzdem steckt mir die aktuelle Situation in den Knochen. Also gönne ich mir ein, zwei Gläschen Brandy. Nichts, was mich umwerfen, aber ein bisschen in Stimmung bringen und die Zweifel zerstreuen soll. So ist es auch. Wir kuscheln, wie streicheln uns …

Ab einem gewissen Punkt setzt bei mir (wie stets) das Kopfkino ein. Keine abseitigen Phantasien, sondern schlicht und ergreifend Bilder von einem Liebesakt, wie ich ihn nach 18 Jahren Beziehung für normal halte. Diese Bilder versuche ich, in die Tat umzusetzen. Paula hat meinen mittlerweile „aufgerichteten kleinen Freund“ angenehm zupackend in der Hand, aber ihre Blockade ist spürbar: Sie lässt mich ganz buchstäblich nicht ran.

Zum ersten Mal tue ich dann etwas, was ich mir schon lange überlegt hatte: Ich frage Paula, ob in ihrem Kopfkino (auch) ein Film liefe und wenn ja, welcher. (Diese Frage mag vielen völlig normal vorkommen in einer ebensolchen Beziehung. Die haben wir aber nicht. Kopfkino bzw. Sex haben wir in den letzten fünf bis acht Jahre nur thematisiert, wenn es Anlass gab, darüber zu streiten.)

Kurzum: In ihrem Kopfkino gibt es keine Vorstellungen. Das Kino ist geschlossen. Der Projektor ist kaputt, vom Rost der Depression zerfressen. Absolute Dunkelheit im gesamten Saal; keinerlei Bewegung auf der Leinwand.

Hey, natürlich erleichterte es mich für den Moment, wenn Paula mich mit der Hand befriedigt. Aber darum geht es nicht (nur). Ich will – siehe oben – keine Arbeit (oder nennen wir es Anstrengung) von ihr, die nur einen Teil meiner Erwartungen und/oder Wünsche erfüllt. Ich will Leidenschaft, Hingabe. Ich will geben. Und nehmen – klar. Sex eben! Normalen Sex.

Ich entziehe mich ihrem Griff. Wir fangen an zu reden. Darüber, worum es mir geht. Und darüber, dass/was Paula nicht kann. Das geht ein paar Minuten gut. Bis das Gespräch eskaliert. Das leider Übliche eben. Jetzt fällt es mir schwer, die Essenz daraus zu ziehen. Vielleicht gibt es ja auch mehrere Essenzen. Eine davon ist die:
Sie kann sich nicht öffnen. Nicht vor sich selbst. Nicht vor und mit mir. Sexualität existiert bei ihr nicht. Das sind ihre Worte, nicht meine Meinung. Das bedeutet: Sex findet nicht statt. Höchstens Erfüllungsarbeit. „Sicher“, sagt Paula, „ich weiß, das ist viel von dir verlangt, Paul. Aber im Moment ist es so und ich kann nichts ändern.“

„Stopp! Stopp! Stopp! Was heißt hier 'im Moment'? Dieser Moment geht auf den ersten Blick schon 20 Tage. (Ich will nicht darüber diskutieren, ob das nun ein statistisch langer Zeitraum ist. Wir reden hier von meinem ganz subjektiven Empfinden.) Bei intensiverer Betrachtung ist Sex schon seit langem ein Thema. Wenn wir ganz genau hinsehen, schon seit mindestens fünf Jahren, seit deine Mutter ins Heim kam. Aber – mal Hand aufs Herz – schon früher haben wir oft darüber gestritten. Wie lange soll ich das noch aushalten? Und – konsequent weitergedacht – heißt das doch: Ich (Paul) zahle 100 % ein (Abwarten, Geduld und Befriedigungsdefizit) und bekomme nichts zurück. Ich denke seit einiger Zeit über eine „offene Beziehung“ nach.“ Das habe ich ihr gesagt.

Ich hätte besser nichts gesagt. (Selbst wenn Paula in den restlichen Minuten dieser … na ja … Konversation sagt, dass ich so eine Idee ansprechen müsse, wenn ich darüber nachdenke.) Und mit „nichts“ meine ich nichts – kein Wort zum Kopfkino, kein Wort zu meinen Wünschen, null, nada, niente. Ich hätte den Gedanken an Sex verdrängen sollen. Das Perverse an der Sache: Hätte ich tatsächlich geschwiegen, hätte ich Paula nicht gestreichelt, hätte sie mir in Kürze mal wieder zum Vorwurf gemacht, dass ich nicht für sie da wäre. (Welche Chance habe ich eigentlich, irgendetwas richtig zu machen?)

Heute Morgen ist Paula nur ein Geist ihrer selbst. Noch während des Frühstücks legt sie sich wieder ins Bett. Ich frage sie, ob es etwas zu besprechen gäbe. Oder ob sie etwas besprechen wolle. „Das macht“, sagt Paula, „keinen Sinn.“ Ich dusche heiß, ziehe mich an und gehe zur Arbeit. Nachher werde ich ihre Hausärztin anrufen, um zu fragen, wo wir kurzfristig eine Paartherapie beginnen können.

Dienstag, 22. Januar 2013

Verunsichert

Ich muss mich zwingen, an etwas anderes zu denken. Schließlich will ich einschlafen, um für den Alltag einigermaßen fit zu sein. (Der Wecker steht auf 6:30 Uhr.) Ein paar Tage nur sind seit dem letzten Streit, dem Big Bang vergangen. Seither hat der Ernst der Lage eine neue Dimension bekommen. Das spüre ich. Irgendwie, aber nicht konkret. So recht bewusst gemacht habe ich mir das noch nicht. Ein paar Tage also. Tage der Wortlosigkeit. Tage der ausweichenden Blicke. Tage der Nullberührung.

Ich habe das Licht schon ausgeknipst. Paula liest noch. In dem Buch, das sie sich gewünscht hatte und das ich ihr zu Weihnachten geschenkt habe. Sie hat es fast zu Ende gelesen. Ob es spannend, unterhaltsam oder lustig ist, darüber hat sich mir nichts gesagt. Ich habe auch nicht danach gefragt. Sie macht das Licht jetzt aus. Ich höre ihre Decken und Kissen rascheln. Ich zwinge mich weiter, an etwas anderes zu denken.

Still freue ich mich über die neue CD meines Lieblingsmusikers, die ich heute bekommen habe, obwohl sie noch gar nicht offiziell im Handel ist. Ich hatte sie direkt beim Label bestellt. Und heimlich an die Firmenadresse schicken lassen. Das mache ich, weil wir uns ein strenges Sparprogramm auferlegt haben. Auch wenn der Kauf dieser CD von meinem Taschengeld abgedeckt ist, möchte ich die fragenden, enttäuschten Blicke von Paula vermeiden. Ich will mich freuen über die CD. Das tue ich jetzt. (Und die CD ist wirklich toll; eine Live-Platte, zum Teil bei dem Konzert aufgenommen, bei dem ich war. Also bin ich auch auf der CD zu hören; als Teil des jubelnden Publikums.)

Da spüre ich Paulas Arm, der mich von hinten umarmt. Die erste Berührung seit Tagen. Ich erschrecke nicht, aber es kommt mir fremd vor. Ich wäre fast schon eingeschlafen gewesen. Jetzt bin ich wieder wach.

Was tun? Habe ich Paula nicht schon oft vorgeworfen, dass sie auf meine Berührungen meist keinerlei Reaktionen zeigt. Weder positive noch negative? Nun liege ich da und grüble. Darüber, ob und wenn ja, was Paula von mir erwartet. Das ist Mist. Ich horche kurz in mich hinein. Vielleicht gibt es wenigstens eine Antwort auf die Frage, was ich möchte. Beklagenswerterweise finde ich keine Antwort. Ich fühle mich leer.

Wir liegen nebeneinander und sind doch „bis zum Mond und wieder zurück“ voneinander entfernt. (Wie es in dem Kinderbuch von Sam McBratney heißt. Dort allerdings haben sich der kleine Hase und der große Hase in dieser Größenordnung lieb.)

Totale Verunsicherung. Ich schiebe mich ein bisschen an Paula heran. Versuche, sie wenigstens spüren zu lassen, dass ich diese Umarmung nicht ganz … na ja … schlimm finde. Wir verharren. Keine Bewegung. Ich schlafe ein.

Tüdelütt, tüdelütt, tüdelütt – der Wecker! Scheiße, schon aufstehen. Ich treffe Paula in der Küche. Ich frage, wie der Elternabend gestern war. Wir reden ein bisschen über die Störenfriede in der Klasse. Unser Kind gehört auch dazu. Na toll!